Ich bin aufgewachsen an der Aumattstrasse, bin als Teenager umgezogen ins Mischeli, meine Freundin wohnte im Surbaum, das lag an der Fleischbachstrasse – alles in Reinach im Kanton Baselland. Wir wohnten damals zwischen dem ersten grossen Einkaufszentrum der Region, einer schnurgerad aufgeschütteten Tramlinie und einem Gartencenter mit Riesenparkplatz. Ich fand das alles hässlich, schon damals. Ein geschichtsloses und gesichtsloses Niemandsland – weswegen ich Agglomerationen bis heute verabscheue.
Doch kürzlich lag im Redaktionsbüro ein Namensbuch der Baselbieter Gemeinden auf dem Tisch. «Reinach» stand darauf und ich begann zu blättern – und stiess mit zunehmender Faszination auf all die vertrauten Strassen- und Quartiersnamen meiner Jugend.
Aus einer hässlichen Gemeinde wird ein Dorf mit einem Gesicht
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Fleischbach, lese ich da, ist ein schuttführender Bach, der die beiden Gemeinden Therwil und Reinach voneinander trennt. Die Leute im Dorf erzählen sich, dass dieser Name zurückgehe auf das Blut, das während des Schwabenkrieges 1499 in einer Schlacht vor Ort vergossen wurde. Tatsächlich aber, korrigieren die Autoren des Heftes, sei der Name «Fleischbach» älter, gehe auf das Wort «Flinse» zurück, was so viel heisst wie «anbrechender Erdschlipf, ein mit Geröll und Schutt bedeckte Blösse an einem Berghang». Geröll also statt Blut, und dann wurde der Bach nach dem ersten Weltkrieg eingedolt: Sein Bachbett füllte man auf zu einem Damm und legte die Fleischbachstrasse obendrauf.
So ging das weiter: Mischeli, Surbaum, Aumatt, Bachmatt. Aus dem ungeliebten, hässlichen Reinach meiner Jugend entstand ein Dorf mit einem Gesicht, mit Auen, Matten, Weiden und einer Geschichte, die bis in vorrömische Zeiten zurückgeht. Jetzt wollte ich es genauer wissen: Wie kommen die Autoren zu ihren Wörtern, ihren Geschichten? Woher stammt dieses Wissen, dass da so unprätentiös in Heftform daherkommt, mir aber gänzlich neue Welten eröffnet?
Plötzlich fliegen Hexen auf Besen und Mörder baumeln am Galgen
Markus Ramseier, steht da im Impressum, sei der Projektleiter, der im Auftrag der Stiftung für Orts- und Flurnamenforschung Baselbiet diese Hefte herausgibt. Selbstverständlich sei er gerne bereit, mir Rede und Antwort zu stehen, sagt er, als ich ihn kontaktiere. Wir treffen uns oberhalb von Pratteln, einer wie Reinach ebenso komplett verbauten Gemeinde, deren Siedlungsbrei nahtlos bis an die Stadt Basel heranreicht.
Und auch hier passiert dasselbe wie beim Blättern im Reinacher-Heft: Sobald Markus Ramseier zu erzählen beginnt, verschwindet der Teppich aus Einfamilienhäuschen und zahlreichen Industriebauten. Wiederum entstehen römische Landstädte, keltische Totenfelder, galloromanische Weiler, germanische Siedlungen. Plötzlich marschieren pensionierte römische Legionäre durch die Landschaft, alemannische Wegelagerer sind auf Beutezug, mittelalterliche Adlige begeben sich auf die Eberjagd in den Wald, Hexen fliegen auf Besen zum Teufel und Mörder baumeln am Galgen.
Eine akribische Arbeit, Schicht für Schicht
Dazwischen: unzählige Generationen von Bauern, die das Land bebauten. «Diese Bauern waren keine Poeten» erzählt Markus Ramseier. «Aber sie haben Namen verteilt, damit sie jeweils ihr Landstück vom Land der Nachbarn unterscheiden konnten. Die Aumatte, der Rosenacker, der Krummenacher, Bündte, Aegerte, Galgenhügel: Das sind alles Flurnamen, die hängen geblieben sind, die sich vermischt haben mit anderen Namen, die umgedeutet und auch verstümmelt worden sind.»
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Eine akribische Arbeit, ihren wirklichen Ursprung durch all die historischen Schichten hindurch zu finden – manchmal bis in vorschriftliche Zeit. Der Sprachforscher Markus Ramseier tut dies schon seit einigen Jahren, sein Fachwissen ist enorm.
Informationsschatz auch für Architekten
Deswegen wendet sich auch der Kantonsarchäologe immer wieder an Ramseier. Flurnamen können zum Beispiel weiterhelfen, wenn er mitten auf einer Wiese ein Gräberfeld findet, aber keine dazugehörende Siedlung. Wenn dann in der Nähe des Gräberfeldes ein Landstück liegt, das die Endung «ingen» trägt, verrät das dem Forscher, dass da im 7. oder 8. Jahrhundert eine Gruppe von Menschen lebte. Deren Siedlung ist zwar verschwunden, deren Gräber sind aber noch vorhanden, denn «ingen» ist eine alemannische Ortsnamen-Endung und bezeichnet eine Sippe, eine Gruppe oder ein ganzes Gefolge.
Manchmal, erzählt Markus Ramseier, täten auch Architekten und Geologen gut daran, die Flurnamen etwas genauer zu studieren, bevor sie sich an grössere Bauvorhaben wagen. Auf dem Deckel des Baselbieter Aldertunnels zum Beispiel verrät der Flurname «Goleten» dem Fachmann Ramseier sofort, dass hier problematisches Gestein im Untergrund ist: «Goleten» geht auf romanische Wurzeln zurück und bedeutet nichts anderes als Rutschhang. Was die Römer also bereits wussten, mussten die Tunnelbauer schmerzlich feststellen, als sie mitten im Tunnel auf gefährliches Quellgestein stiessen – was das Bauvorhaben um Millionen verteuerte und um Jahre verzögerte.