Die Frau steht im eisigen Wasser des Alten Rheins. Sie hält ein Kleinkind in den Armen. Ein Grenzwächter fordert sie mit vorgehaltenem Gewehr auf, umzukehren. Sie und ihr Mann weigern sich, lieber lassen sie sich erschiessen. Der Grenzwächter lässt die Familie die Schweizer Grenze passieren.
Diese Szene stammt aus dem Spielfilm «Die Akte Grüninger» über den Vorgesetzten des Grenzwächters, den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger (1891-1972).
Jonathan Kreutner, Historiker und Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG, ist der Sohn des Kleinkindes im Film. «Dieses Bewusstsein, dass das eigene Leben von einer Minute abhängt, die so weit vor der eigenen Geburt liegt, das ist schon sehr speziell», betont er.
Seine Grosseltern flüchteten am 29. November 1938 in die Schweiz, beinahe auf den Tag genau 40 Jahre vor seiner eigenen Geburt. Die Worte seines Grossvater haben sich ihm eingeprägt: «Wären wir nicht gerettet worden, wärst Du 40 Jahre später nicht geboren worden».
Kein «Holocaust-Überdruss»
Wegen seiner persönlichen Geschichte hat Jonathan Kreutner einen engen Bezug zum «Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus». Fast alle seiner acht Urgrosseltern mit Wurzeln in Osteuropa sind im Holocaust umgekommen. Seine vier Grosseltern sind Holocaust-Flüchtlinge.
Es gebe in jüdischen Kreisen keinen Holocaust-Überdruss, wenn man auch nicht nur auf den Holocaust reduziert werden wolle: «Der Holocaust ist aber ein entscheidender Teil der jüdischen Geschichte und Identität», meint Jonathan Kreutner.
Dieses Jahr fanden am 27. Januar, 70 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, zwei internationale Gedenkanlässe in Theresienstadt und in Auschwitz statt. Jonathan Kreutner selber war in Theresienstadt.
Vergessen und verarmt
Jonathan Kreutner verdankt sein Leben auch dem couragierten Verhalten von Paul Grüninger. Der Polizeihauptmann missachtete die Schweizer Grenzsperre ab Sommer 1938 und übertrat Gesetze, um jüdische und andere Flüchtlinge zu schützen. Dafür wurde er aus dem Amt gejagt, eine Rente wurde ihm abgesprochen.
Nach dem Krieg geriet er in Vergessenheit und starb 1972 verbittert und verarmt. Auch die jüdische Gemeinschaft unterstützte Grüninger nicht, mit Ausnahme der Familie Sternbuch, in deren Firma Grüningers Tochter eine Stelle antreten konnte.
Späte Würdigung und Wertschätzung
«Es hat mich immer irritiert, dass man Paul Grüninger nach dem Krieg hat fallen lassen», sagt Jonathan Kreutner. Er fügt hinzu, dass auch die Rolle des Schweizerischen Israeltischen Gemeindebundes SIG unrühmlich war. Nach dem Motto «Besser spät als nie» hat der SIG kürzlich entschieden, Ruth Roduner-Grüninger, der Tochter von Paul Grüninger, ab Januar 2015 eine monatliche Geste der Wertschätzung zukommen zu lassen: 1000 Franken.
Weiter soll ein Historiker die Gründe für das hartherzige Verhalten des SIG gegenüber Paul Grüninger vorabklären. Die Geschichte, die vor vielen Jahrzehnten an der Schweizer Grenze ihren Anfang nahm, ist noch nicht abgeschlossen.