Als Pussy Riot 2012 in einer Moskauer Kirche mit ihrem «Punk-Gebet» Aufsehen erregten, wurden sie dafür hart bestraft. Wirken die damaligen Vorgänge heute in der russischen Kulturszene noch nach oder sind sie vergessen?
Irina Scherbakowa: Die russische Führung hat damals die künstlerische Aktion von Pussy Riot zu einem politischen Akt aufgebauscht. Danach wurden bewusst sehr harte Urteile gefällt, um andere Kulturschaffende abzuschrecken, ähnliches zu tun. Die Erinnerung an die damaligen Vorgänge ist bei vielen Menschen auch heute noch sehr präsent.
Haben sich die Kulturschaffenden einschüchtern lassen?
Viele sind sich bewusst, dass sie damit rechnen müssen, dass der Staat die Meinungsfreiheit einzuschränken bereit ist, wenn er dies für nötig hält. Alle wissen, dass beispielsweise das Gesetz gegen die so genannte «homosexuelle Propaganda» gerade im Bereich der Kunst immer wieder missbraucht wird.
Zum Beispiel?
Es wurden mit Verweis auf dieses Gesetz bereits wiederholt Filme verboten. Dazu kommen Signale aus dem russischen Kulturministerium, die mich beunruhigen: Russland sei nicht Europa, die europäischen Werte seien Russland fremd, und die Kultur habe den russischen Sonderweg abzubilden.
Was bedeutet das für Künstlerinnen und Künstler im Alltag?
Es gibt immer weniger Freiheiten. Gefordert wird ein russischer Fundamentalismus und die Unterordnung unter den autoritären Staat. Längst nicht alle spüren diesen Druck gleich stark. Aber die Fälle häufen sich, da etwa Filmschaffende vom Ministerium den Bescheid bekommen, dass sie für ihr Projekt keine finanzielle Unterstützung erhalten. Die Gründe für Absagen sind meistens ideologisch – dass etwa die Darstellung des Krieges in einem Film nicht in die offizielle mythologische Vorstellung passt.
Was bezweckt die Regierung Putin mit dieser Politik?
Zum einen geht es um Abschreckung. Kritische Geister werden zum Verstummen gebracht, indem man ihnen die staatlichen Gelder entzieht, ohne die ein Kulturprojekt oft nicht auskommt. Zum anderen feiert die alte sowjetische Tradition eine Renaissance, wonach sich die Kultur der staatlichen Macht zu beugen hat. Die Kultur soll den Zielen der politischen Elite dienen. Die Kultur ist fast immer ein Abbild der Politik. Und dies zeigt sich derzeit in Russland sehr deutlich.
Sind sich die Kulturschaffenden in der Ablehnung der staatlichen Kulturpolitik einig?
Nein, überhaupt nicht. Die Kulturschaffenden sind wegen des politischen Kurses der Regierung Putin ähnlich gespalten wie die Gesellschaft selbst. In Russland tobt ein ideologischer Kampf, der nicht entschieden ist – weder innerhalb der Kulturszene, noch in der Gesellschaft an sich.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Niemand weiss, wie sich die Politik in Russland entwickeln wird. Ich glaube, dass viele Kulturschaffende den Kampf um Freiheit, Menschenrechte und Demokratie weiterhin führen werden. Allerdings macht mir der Gedanke Angst, dass viele Künstlerinnen und Künstler Russland verlassen könnten. Das würde unserer Kultur sehr schaden. Das Land hat bereits im letzten Jahrhundert mehrfach schmerzhafte Wellen von Künstleremigration erleben müssen.
Aber noch immer gilt, dass die Hoffnung erst ganz am Schluss stirbt.
Ich hoffe natürlich, dass Russland wieder einen demokratischen Weg einschlägt und auch der Kultur wieder ihre Freiheiten lässt. Aber danach sieht es im Moment leider nicht aus. Momentan sieht es nach heftigen Kontroversen aus.
Sind Kontroversen denn ein schlechtes Zeichen? Jede Demokratie lebt von der Diskussion.
Schon, aber entscheidend ist die Frage, wie die Staatsmacht mit denjenigen Kulturschaffenden umgeht, die ihr widersprechen. Wenn Filmregisseuren, Theatermachern oder Autoren die staatlichen Gelder entzogen werden, weil sie dem Regierungskurs zu widersprechen wagen, hat dies mit Demokratie nichts zu tun.