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Eine Hand ragt aus einem Zelt.
Legende: Das Schweigen brechen: Migranten sind häufig traumatisiert. Reuters

Gesellschaft & Religion Jeder dritte Flüchtling in der Schweiz ist traumatisiert

Migration bedeutet Entwurzelung und Isolation. Etwa ein Drittel der anerkannten Flüchtlinge in der Schweiz ist durch Gewalt traumatisiert. Wie ist die Schweizer Psychiatrie auf diese Patienten vorbereitet? Heidi Schär Sall und Janis Brakowski im Gespräch über transkulturelle Behandlungen.

Sie arbeiten auf der Akutabteilung für Migrantinnen und Migranten der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. Gibt es typische psychische Probleme, die diese Patienten mitbringen?

Janis Brakowski: Wir behandeln in der Akutaufnahme des «Burghölzlis» einerseits Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, z.B. Psychosen, aber auch Depressionen. Diese treten mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit bei Migranten als auch in der übrigen Bevölkerung auf. So genannte posttraumatische Belastungsstörungen sind hingegen bei dieser Patientengruppe sehr häufig. Viele Patienten leiden unter traumatischen Erlebnissen in ihrer Heimat oder unter ihrer schwierigen psychosozialen Situation hier in der Schweiz, etwa finanziellen Probleme oder problematischen Familiendynamiken.

Transkulturelle Psychiatrie

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Heidi Schär Sall und Janis Brakowski.
Legende: SRF

Das «Burghölzli», die Psychiatrische Universitätsklinik in Zürich, hat eine Akutstation eingerichtet, die ihren Schwerpunkt auf die Behandlung von Migranten und Migrantinnen legt. Dort sind Heidi Schär Sall als Ethnopsychologin, Janis Brakowski als Stationsleiter und Psychiater tätig.

Heidi Schär Sall: Vergessen wir nicht: Viele Migranten leiden auch, wenn sie hier ankommen und nicht ins normale Leben zurückfinden – weil sie nicht arbeiten dürfen, in überfüllten Lagern leben, von ihren Verwandten getrennt werden oder eine Ausschaffung befürchten. Wir haben auch Patienten, die deshalb bei uns sind.

Unterscheiden sich Migranten und Migrantinnen in der Symptomatik ihrer psychischen Störung von Schweizer Patienten?

Heidi Schär Sall: Es gibt bestimmte Kommunikationsmuster, Tabus und Sprechweisen. Wir reden deshalb besonders in der transkulturellen Psychiatrie nicht nur mit den Betroffenen, sondern auch mit Angehörigen. Je nach Männlichkeitsvorstellung können sich Gefühle wie Trauer z.B. nicht durch Weinen, sondern durch Aggression äussern. Vieles merkt man an der Art und Weise, wie Menschen ihre Geschichten erzählen. Etwa wenn jemand sagt: «Es gibt Schatten, die sagen mir, ich solle mich umbringen» – weil es ein Tabu ist, zu sagen: «Ich möchte nicht mehr leben, ich möchte mir etwas antun». Solche Äusserungen werden leider manchmal fälschlicherweise als psychotisch diagnostiziert.

Wie gross ist die Gefahr bei Patienten mit Migrationshintergrund, das Verhalten aufgrund unserer eigenen kulturellen Vorstellungen falsch zu interpretieren?

Heidi Schär Sall: Das ist tatsächlich ein Problem: Kultur dient oft auch als Abwehr, beim Patienten, aber auch beim Behandelnden, im Sinne von: «Das ist halt meine/seine Kultur». Ich versuche dann herauszufinden: Was sind die persönlichen Vorstellungen meines Gegenübers und welche kulturellen Konzepte stecken dahinter?

Gibt es auch Situationen, in denen Sie überrascht sind, wie jemand seine Geschichte erzählt oder zu erklären versucht?

Heidi Schär Sall: Überraschungen gibt es immer wieder. Ich frage die Patienten oft: «Wie würde man ihre Krankheit oder ihre psychischen Symptome denn in Ihrem Herkunftsland bezeichnen?» Ein junger Mann aus Afghanistan erzählte auf diese Frage hin, er sei zum Imam gegangen und der hätte erklärt, er sei besessen. Später kam heraus, dass er auf dem Schulweg massakrierte Menschen gesehen hatte und Angst hatte, seine Familie auch massakriert vorzufinden. Er war traumatisiert. Phänomenologisch ist das etwas ganz Ähnliches wie das Besessensein: Wie ein Geist, der plötzlich in einen hineinfährt, ist auch das Trauma auch ein plötzlicher Schrecken. Mir helfen daher diese traditionellen Diagnosen aus dem Ursprungsland.

Sie sprechen häufig nicht die Sprache der Patienten. Der Graben, der sich dadurch auftut – wie kann man ihn überwinden?

Janis Brakowski: Jeder Patient sollte Anspruch darauf haben, sich in seiner Muttersprache ausdrücken zu können. Das grosse Problem ist die Finanzierung: Übersetzer werden nicht von der Krankenkasse bezahlt. Aus meiner Sicht widerspricht das dem Völkerrecht.

Heidi Schär Sall: Sprache ist mehr, als etwas zu übersetzen. Aber ich hatte auch schon einmal eine Patientin in Behandlung, die wollte nur Deutsch sprechen, weil sie in der Sprache der Mutter viele seelische Verletzungen erfahren hatte. Die neue Sprache war für sie ein Schutz, um sich ihrem Trauma anzunähern.

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