Warum kam es diesen Frühling zur Protestaktion der Schweizer Fahrenden, der Jenischen, in Bern?
Claude Gerzner: Die Probleme haben ihren Ursprung bereits in den 70er-Jahren, durch die damalige Verbauung der Schweiz. Dadurch gab es immer weniger Stand- und Durchgangsplätze für uns. Obwohl es schon längst bitter nötig gewesen wäre, aufzustehen und für unsere Rechte zu kämpfen, dauerte es 40 Jahre, bis es diesen Frühling endlich zum «Chlapf» gekommen ist.
Aber es gehen doch immer wieder neue Plätze auf: Warum reklamiert ihr?
Ganz einfach: Die Plätze sind meist dort, wo Sie nie würden wohnen wollen. In Winterthur neben Giftmüll, in Grenchen neben einer Kläranlage, in Thun neben dem Feuerwehrdepot, in Knonau neben einem grossen Kiesberg voller Staub. Oft gibt es keine Kanalisation, das Abwasser fliesst frei herum. Auf dem Teerboden können wir keine Vorzelte aufstellen, wie das bei uns Schweizer Fahrenden der Brauch ist. Die Plätze sind nicht – wie behauptet – nach unseren Bedürfnissen eingerichtet.
Letztes Jahr wurde der Verein «Bewegung der Schweizer Reisenden» gegründet. Wie kam es dazu?
Seit einigen Jahren haben wir schon davon geredet, dass wir aufstehen sollten, eine Demo machen, weil es so nicht mehr weitergeht mit den Plätzen. Als es dann letztes Jahr auf dem neuen Durchgangsplatz für Fahrende in Winterthur zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei kam und ich mich wehrte, weil ich den Kinderwagen nicht auf die gleiche Parzelle stellen durfte wie meinen Wohnwagen, verbreitete sich dies wie ein Lauffeuer bei allen Jenischen.
Das Fass zum Überlaufen brachte dann auch die Überwachungskamera in Winterthur: Ich wurde gefilmt, wenn ich zum Kehricht ging, wenn ich aufs WC ging, wenn ich fort fuhr, wenn ich zurück kam – einfach immer. Wo bleibt da die Privatsphäre?
Wir sind kein «Big Brother», wir sind Jenische. Da haben sich viele von uns geärgert und gesagt, diesen Platz hätte die «Radgenossenschaft», die uns offiziell vertreten soll, nicht annehmen dürfen. Deshalb haben wir letzten Herbst eine neue Bewegung gegründet.
Ihr wollt ja nicht mit Roma zusammen den gleichen Platz teilen. Das tönt fast ein bisschen rassistisch.
Das hat überhaupt nichts mit Rassismus zu tun. Roma haben eine andere Kultur wie wir. Wir sind ja Schweizer Jenische, wir haben sonst schon genug Probleme, akzeptiert zu werden. Die Roma oder Transitfahrende, wie man heute sagt, kommen vom Ausland her. Sie fahren quer durch die Schweiz, halten auf unseren Plätze, lassen Dreck liegen, zahlen manchmal die Miete nicht, machen Lärm und Theater. Wenn die Sesshaften das alles sehen, heisst es: «typisch Zigeuner». Und damit werfen sie uns in einen Topf.
Was verlangt ihr jetzt?
Dass wir unsere eigenen Plätze haben und die Roma ihre eigenen. Jede Kultur, das ist schon seit Jahrhunderten so, ist immer ihren Weg selber gefahren. Jetzt sagt einfach ein Staat, das sei alles ein Volk. Wir sind zwar alles Fahrende und Reisende, aber jede Gruppe hat ihre eigene Kultur, ihre eigenen Sitten, ihre eigene Sprache. Als Sesshafte weiss man das nicht so genau.
Bei den Dreharbeiten zu meiner Reportage im Jahr 2008 war euer Umgang mit den Medien noch anders. Ihr wolltet möglichst nichts mit ihnen zu tun haben. Jetzt seid ihr offener geworden. Warum?
Wir wissen mittlerweile, dass es ohne Medien nicht mehr geht. Wir haben heute Internet und Facebook. Von der älteren Generation konnten viele weder lesen noch schreiben. Die meisten Jungen können dies heute, sie sind geschult, lesen Zeitung, sehen fern, gehen ins Internet. Sie können sich besser bilden, auch politisch, sie bekommen mehr mit, was alles auf der Welt geschieht. Dies hat zu einem Umdenken geführt. Man vergisst, dass das jenische Volk immer mit der Zeit gegangen ist. Wenn man nicht mit der Zeit geht, kann man nicht überleben.
Haben die Jenischen heute mehr Selbstbewusstsein?
Ängste sind schon da. Die Jungen haben vor allem die Platzprobleme mitbekommen. Aber unsere Generation hat «Pro Juventute» erlebt (das Projekt «Kinder der Landstrasse», das Kinder von Jenischen ihren Familien entzog, Anm. d. Red.), mein Grossvater hat das Konzentrationslager erlebt. Die Jungen kennen das alles nur vom Hören. Früher haben wir mehr abgeblockt, wenn die Medien kamen. Heute finden wir, dass die Öffentlichkeit wissen muss, was abgeht. Wir wollen uns nicht mehr verstecken.