Brüche im Lebenslauf: Sie seien charakteristisch für die grosse Mehrheit der Terroristen – egal, ob diese einer islamistischen, rechts- oder linksextremen Ideologie anhängen, sagt der ZDF-Terrorexperte Elmar Thevessen.
Ob in der Vergangenheit für Timothy McVeigh, den Attentäter von Oklahoma City im Jahr 1995, für Anders Breivik und das NSU-Mördertrio oder in der Gegenwart für europäische Dschihad-Reisende und gewaltbereite Rechts- und Linksextremisten – für sie alle trifft zu: «Sie sind Verlierer in ihrer eigenen Gesellschaft und deshalb anfällig für Ideen, die ihnen ein geschlossenes Weltbild vermitteln», so Elmar Thevessen.
Ein Weltbild, das ihrem Leben Sinn, Halt und Orientierung zu geben verspricht. Ein Weltbild, das sie im Gefühl bestätigt, Opfer zu sein. Laut Elmar Thevessen hängt es «fast vom Zufall ab, ob jemand am Ende Islamist, Rechtsextremist oder Linksextremist wird». Im Westen Deutschlands sei das Risiko grösser, dass ein verunsicherter junger Mensch zu islamistischer Gewalt tendiere. Im Osten dagegen schwenkten mehr Personen zum Rechtsextremismus.
Die komplizierte Welt, einfach erklärt
Gefährdet sind laut Thevessen «junge Leute, die sich in einer Gesellschaft abgekoppelt fühlen». Private, familiäre Umstände könnten ebenso einen Einfluss haben wie der Leistungsdruck der Schule und der Arbeitswelt oder psychische Probleme.
Ein wichtiges Argument für islamistische Extremisten sei zudem, dass sie «eine Benachteiligung innerhalb der eigenen Gesellschaft und eine Art Doppelmoral in der Aussenpolitik des Westens» wahrnähmen. Denn der Westen predigt hehre Werte wie Demokratie und Menschenrechte, handelt aber – siehe Abu Ghraib, Guantanamo und Zusammenarbeit mit Diktatoren – oft unglaubwürdig. Wenn junge Leute in einer schwierigen Lebensphase auf die falschen Leute treffen, die ihnen erklären, wie die Welt funktioniert, wer daran schuld ist und was sie dagegen tun können, kann es gefährlich werden.
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Der Fluch des Internets
Denn an extremistische «Informationen» kommt man heute des Internets wegen viel einfacher als früher. Waren einst extremistische Prediger und obskure Untergrundstrukturen die Ansprechpartner, gerät man heute durch simples Surfen im Netz einfach auf einschlägige Webseiten, in Foren oder Chats.
Der elektronische Kontakt sei sehr unmittelbar, hält Elmar Thevessen fest: «Auf einmal meldet sich ein islamistischer Hassprediger aus dem Kriegsgebiet zu Wort und vermittelt den jungen Leuten, dass das ein gerechter Kampf sei. Da baut sich eine persönliche Beziehung auf zwischen den Leuten am Computer und der Person im Kriegsgebiet. Das hat offenbar eine grosse magnetische Sogwirkung, so dass junge Leute dann bereit sind, mitzukämpfen.»
Dazu kommt, dass Bilder heute leicht verfügbar sind. Wer sie hochlädt, erlangt die Deutungshoheit. Wer sich ständig in denselben Foren und Chat-Rooms aufhalte, halte diese ständig wiederholten Darstellungen schliesslich für Tatsachen, für die Wahrheit, sagt Thevessen. Terrorismus bedeutet auch Propagandakrieg.
Prävention ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft
Wer denkt, das Problem der Radikalisierung und der Rekrutierung junger Leute durch Extremisten aller Couleur lasse sich allein durch polizeiliche, geheimdienstliche oder gar militärische Mittel lösen, unterliege einem Irrtum, unterstreicht Thevessen. Die ganze Gesellschaft sei gefordert, denn die Gründe für den Terror hätten mit sozialen Strukturen, familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun.
Aus dem Fall NSU und aus anderen Fällen könne man lernen, «dass sich der Staat und alle Gruppen in der Gesellschaft viel mehr um solche Gescheiterte, um solche Verlierer einer gesellschaftlichen Entwicklung kümmern müssen, um den fruchtbaren Boden abzugraben, auf dem Extremismus und Terrorismus entstehen».
Jeder Bürger muss aktiv werden
Die staatlichen Einrichtungen reichten nicht aus, um Gegensteuer zu geben. Gute Ansätze sieht Thevessen in einem Projekt in der dänischen Stadt Aarhus. Hier helfen Staat, Wirtschaft und Private gemeinsam Dschihad-Rückkehrern, indem sie ihnen Unterstützung bei Ausbildung, Job und Wohnungssuche gewähren.
Jeder Bürger könne – ja müsse – aktiv werden. Wir alle erlebten mit, wie Menschen in Schwierigkeiten kommen. Als Mitschüler, Lehrer, Familienangehörige, Arbeitskollegen, Nachbarn, in Verbänden und Vereinen bekämen wir mit, wie Menschen sich entwickelten und welche Gedanken sie äusserten.
«Wir müssen bereit sein, uns einzumischen und auf die jungen Leute zuzugehen», sagt Elmar Thevessen. Weder dürften wir wegsehen, noch die Auseinandersetzung mit diesen Menschen einfach dem Staat überlassen. Denn die Bedrohung, die am Ende einer prekären persönlichen Entwicklung entstehen könne, gehe uns alle an.