Sie haben Ihren Schwiegervater als Theologiestudentin erstmals im Rahmen eines Seminars in Zürich kennengelernt. Wie haben Sie ihn erlebt?
Marie-Claire Barth: Mir fiel sogleich auf, dass er präzise formulieren und den Menschen zuhören konnte. Er hat sein Gegenüber wichtig genommen, versuchte dessen Gedanken aufzunehmen, weiterzuführen oder abzuändern. Diese Eigenschaft hat ihm ermöglicht, in wichtigen Gremien mitzuarbeiten und bei den Vorbereitungen zur Weltkirchenkonferenz 1954 im US-amerikanischen Evanston eine zentrale Rolle einzunehmen. Nicht zuletzt war Karl Barth in Deutschland der wichtigste Kopf der «Bekennenden Kirche» im geistigen Kampf gegen den Nationalsozialismus.
Einige Zeit später begegnete Ihnen Karl Barth auch als Privatperson.
Ich war Studiensekretärin der christlichen Studentenbewegung und lernte seinen Sohn Christoph Barth, Dozent für Altes Testament, kennen. Wir haben in Indonesien, in Jakarta, geheiratet. Noch heute erinnere ich mich an jenen Moment, als Karl Barth unseren ältesten Sohn zum ersten Mal im Arm hielt – ein bewegender Moment. Er war ein Familienmensch.
Wie würden Sie seine Theologie bezeichnen, und was können wir heute daraus lernen?
Das Entscheidende bei Karl Barth war das Zentrum des christlichen Glaubens. Für ihn war die Theologie nicht nur mit Denken, sondern auch mit Nachdenken verbunden. Insofern hat er sich für eine biblische Theologie eingesetzt und versucht, die Texte, die in einer früheren Zeit verfasst wurden, zu verstehen. Das Ziel bestand darin, sich an den damaligen Problemen zu orientieren, diese ins Jetzt zu übertragen und zu erkennen, was Gott den Menschen sagen wollte.
Nach Karl Barth vollzieht sich die Theologie in Gestalt eines Gesprächs, zunächst im Zwiegespräch mit Gott. Wie denken Sie darüber?
Da stimme ich zu. Ich habe mein theologisches Wissen viele Jahre in Indonesien weitergegeben und dort ist es selbstverständlich, dass der Unterricht durch das Gebet sowie den Gottesdienst getragen wird. Allerdings wird die Theologie an den europäischen Universitäten als eine Wissenschaft sozusagen losgelöst vom Gespräch mit Gott betrieben, was ich sehr bedaure.
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Wie liesse sich diese Situation ändern?
Man müsste den praktischen Teil bereits während der theologischen Ausbildung deutlich hervorheben, damit sich die Studenten nicht nur in historisch-akademischer Hinsicht mit diesem Fachgebiet auseinandersetzen, sondern sich auch die Frage stellen, wozu man Theologie studiert und welche Rolle der christliche Glaube in unserer Kultur einnimmt.
Karl Barth hat zuweilen an sich gezweifelt und sich gefragt, ob er den Menschen etwas Sinnvolles vermitteln könne.
Nach seinem Studium arbeitete er als Pfarrer in Safenwil, in einem Agrardorf im Kanton Aargau, das bereits industriell geprägt war. Bald erkannte Karl Barth, dass die traditionelle Form des kirchlichen Lebens die Menschen nicht wirklich berührt. Deswegen begann er den Römerbrief des Paulus neu zu lesen und für sich zu kommentieren. Er stellte sich die Frage: Wer ist dieser Gott, Vater Jesu Christi? Es ging ihm darum, dem lebendigen Gott zu begegnen.
Sind Theologen wie Karl Barth noch zeitgemäss?
Durchaus. In einem Zeitalter der Globalisierung und digitalen Revolution wäre ein Blick nach innen, ein Nachdenken im Sinne Karl Barths sicher wünschenswert. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Evangelium viel zu geben hat: Kein Mensch ist unbedeutend, und das gilt nicht nur für uns Christen.