Für Ihr Buch «Die Schuld der anderen» begleiteten Sie Polizisten in die Pariser Banlieues, wo Sie auf junge, gewaltbereite Kriminelle trafen. Wie prägte diese Erfahrung Ihren Blick auf die Attentate?
Gila Lustiger: Ich möchte gar nicht über die Täter sprechen. Für mich sind das Soziopathen, denen der Massenmord einen Kick gab. Mein Blick richtet sich vor allem auf die Opfer. Wenn man sich deren Biografien anschaut, erkennt man, warum die Attentätern unsere Zivilisation so widerwärtig finden.
Was glauben Sie war der Grund für den Anschlag?
Unter den Opfern befanden sich Menschen verschiedener Religionen, sie akzeptierten andere Meinungen und Weltansichten – das macht den Attentätern Angst. Ihr Angriff galt dem Zusammenleben verschiedener Abstammungen und sozialer Klassen sowie dem Amüsement junger Menschen.
Das Amüsement lässt sich Frankreich jedoch nicht nehmen.
Nein, die Franzosen sagen nach den Anschlägen: Wir machen genau so weiter; wir lassen uns unsere Weltoffenheit, das Miteinander, das Ausgehen nicht nehmen. Auch die Satire-Zeitung «Charlie Hebdo» bezog nach den Anschlägen Stellung: Auf dem Cover war ein durchlöcherter Mann mit einer Champagnerflasche in der Hand zu sehen. Darunter stand: «Sie haben die Waffen. Wir den Champagner!» Das mag frivol aussehen, aber darum geht es. Für die Franzosen gehören der Ausgang und die Treffen mit Freunden zum guten Leben dazu. Das ist das Savoir-vivre.
Was hilft den Menschen bei der Verarbeitung der Anschläge?
Sie vergewissern sich ihrer Werte, greifen zurück auf die Kultur – das ist die einzige Antwort auf den Terrorismus. Als Schriftstellerin berührt mich das sehr. Das Buch «Paris – ein Fest fürs Leben» von Ernest Hemingway wurde bereits 15'000 mal neu gedruckt. Es geht um das Paris der Cafés, der jungen Leute, des typisch französischen Savoir-vivre.
Was lesen Sie?
Für mich persönlich ist das Gedicht «Roman» von Jean Arthur Rimbaud symbolisch für die Opfer – sie haben eben nichts anderes verbrochen, als Bier und Limonade zu trinken, leichtsinnig zu sein und sich zu verlieben. Das werden sie auch weiterhin tun. Paris bleibt die Stadt des Austauschs, des Miteinanders, des Feierns – es geht gar nicht anders. Denn der Elan des Lebens ist stärker als irgendeine Todessehnsucht einiger fanatisierten Knallköpfe.