«Wenn der Firnen Glanz sich rötet / Betet, freie Schweizer, betet!» Bei diesen Worten rötete sich auch die Stirn meines frommen Vaters, aber im Zorn. Er liebte es wohl, sein Vaterland, aber Gott darin zu suchen, fiel ihm nicht ein; und wer Götzendienst trieb, dem begegnete er mit eigenen Spott.
«Trittst im Morgenrock daher», anders habe ich ihn den «Schweizerpsalm» nie zitieren gehört. Zum Glück hatten wir damals noch eine richtige Nationalhymne, und alle Jahre wieder, am 1. August – damals noch im Weltkrieg – trieb sie mir das Wasser in die Augen: «Stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott». Gesungen auf die Melodie von «God save the King».
Erst als so viel Heldentum die Schweiz, die es nicht hatte beweisen müssen, zu genieren anfing, besann man sich auf landeshymnisches Eigengewächs. Dass man den Text des «Schweizerpsalm» nicht singen kann, also auch kaum hören muss, ist das Gnädigste, was man über ihn sagen kann. Aber da man die schöne Melodie weder mit da-da-da begleiten noch, wie Spanien oder San Marino, sprachlos lassen will, erleben wir alle zehn Jahre wieder den Anlauf zu einem endlich zeitgemässen, endlich haltbaren Text. Diesmal hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft Volkes Stimme zum Wettbewerb antreten lassen und das Resultat ins Netz gestellt: sechsmal «Schweizerpsalm» ohne Morgenrot und Strahlenmeer, und kein Helm ab zum Gebet. Jetzt soll doch, wie sich`s gehört, die Mehrheit ihren Hymnus selber wählen.
Aber Landeshymnen sind wie geerbte Stilmöbel; passen sie nicht mehr in den Haushalt, so entsorgt man sie – oder muss sich den Luxus leisten, sie als Erinnerungsstücke an eine Zeit zu behandeln, als die Nation noch sangbar schien. Mir ist nur ein einziges Beispiel einer gelungenen neuen Landeshymne bekannt. Ihre letzte Strophe lautet: «Und weil wir dies Land verbessern /Lieben und beschirmen wir`s / Und das liebste mag`s uns scheinen /So wie andern Völkern ihrs.» Bertolt Brecht hat sie «Kinderhymnus» genannt und 1949 der neu gegründeten DDR gewidmet, und ihre Herren haben sie, wie sich versteht, respektvoll ignoriert. «Und das liebste mag`s uns scheinen» – auch kein schweizerischer Souverän würde dieser Einladung zur Bescheidenheit im Vergleich, zur Relativität seiner patriotischen Gefühle folgen . Obwohl «mögen» gerade auf Schweizerdeutsch einmal «lieb haben» bedeutete – es gab gar kein anderes Wort. Also auch kein besseres.