Heute Abend um 20 Uhr wird Papst Benedikt XVI. von seinem Amt zurücktreten. Den Titel «Seine Heiligkeit» darf er behalten, sein Siegelring jedoch, der Petrusring, wird zerstört, zum Zeichen dafür, dass er nicht mehr regiert. Während die Spekulationen über seine Nachfolge schon am Kochen sind, befindet sich die römisch-katholische Kirche gleichzeitig in einer Schockstarre, denn dieser Rücktritt stellt eine wirklich einmalige Situation dar.
Nie dagewesener Schritt
Der erste Rücktritt eines Papstes vor 700 Jahren hatte andere Hintergründe. Der Jesuit Franz-Xaver Hiestand erklärt, dass Papst Coelestin V. aufgrund von Mobbing seinen Platz räumte. Das sei ein veritables politisches Powerplay der Mächtigen gewesen. Papst Benedikt XVI. hingegen, hat die Entscheidung aus geistlichen Gründen, in grosser Freiheit vor Gott und seinem Gewissen getroffen. Das sei ein nie dagewesener Schritt für den das Verfahren fehlt.
Der Zustand von zwei lebenden Päpsten verunsichert. Der Jesuit Franz-Xaver Hiestand bezeichnet diesen Zustand als befreiend und irritierend zugleich. Die ganze katholische Kirche sei hilflos, wie sie mit einem Papst umgehen soll, der nicht mehr im Amt ist. Ein Papst würde unter den Augen von Millionen von Menschen eingekleidet, doch ein Ritual für das Auskleiden existiere kaum.
Im schlimmsten Fall könnte es sogar zu neuen Schismen, also Abspaltungen kommen, wenn einige Gläubige den neuen Papst nicht akzeptieren wollen, weil der alte noch lebt.
Die katholische Kirche gerät in Bewegung
Der Amtsverzicht könnte an den Grundfesten der römisch-katholischen Kirche rütteln. Doch was genau dieser Rücktritt alles auslösen wird, vermag jetzt freilich niemand zu sagen. Gegenwärtig ist bereits eine historische Zäsur festzustellen.
Der Akt bringt Bewegung in Kirche und Kurie und zwingt diese, das Papstamt und die Selbstorganisation der römisch-katholischen Kirche zu überdenken. Abt Martin Werlen findet das gut, denn so würden Fragen aufgeworfen, die die Kirche lebendig hält. Bewegung - das ist das Stichwort des Tages für Werlen, er erkennt im Rücktritt Benedikts die lang vermisste Bewegung in der römisch-katholischen Amtskirche.
In Rom setzen sich inzwischen Hundertausende in Bewegung, um Papst Benedikt VI. noch einmal sehen zu können. Der Andrang sei ein Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts der symbolischen Neuartigkeit des Amtsverzichts, so Franz-Xaver Hiestand.
Der Papst, ein bröckelnder Mythos
Dieser Amtsverzicht wird nicht nur das Bild vom Papst, sondern auch die Rolle des Papstes, und den Mythos, der um ihn gewachsen ist, verändern. Vielleicht wird eben jetzt dieses mythisch überfrachtete Papstamt auf ein irdisches, ja menschliches Normalmass zurückgestaltet. Wenn diese Umdeutung des Amtes eine Revolution in der Kirche provoziert, dann hätte sie ausgerechnet der konservative Papst Benedikt XVI. ausgelöst.