Die Kulturrevolution in China in den 1960er- und 1970er-Jahren richtete sich vor allem gegen die Bildung und gegen die alte chinesische Kultur. Warum?
Detlev Claussen: Die Revolution wurde hauptsächlich von den Bauern getragen. Mao Zedong hatte die Vorstellung, dass die Revolution nicht vorankommt, wenn die ungebildeten Massen keinen Zugang zur Kultur haben. Es sollte daher eine neue, revolutionäre Kultur geschaffen werden. Für dieses Ziel war Mao Zedong bereit, sich auf die Jugend zu stützen, welche die Vormacht der alten Kultur und damit auch der alten Kulturträger brechen sollte.
Wie muss man sich das Vorgehen der so genannten «Roten Garden», der revolutionären Kampftruppen Maos, vorstellen?
Die Rotgardisten kamen ins Klassenzimmer und in die Hörsäle der Universitäten, stellten die Autoritäten, die Lehrer und Hochschullehrer, zur Rede. Auf die Universitäten griff die Revolution sehr schnell über, weil die Universitäten und Schulen von der Partei kontrolliert wurden.
Die Parteimitglieder an den Universitäten wie auch die Mitglieder des Parteikomitees verteidigten entweder die Autoritäten – dadurch wurden sie selber angeklagt. Oder aber sie richteten sich linientreu gegen die Autoritäten. Sie können sich vorstellen: Es war ein Tummelfeld für Intrigen und Denunziation.
Während der Kulturrevolution versuchte man alles, was mit alter chinesischer Tradition zu tun hatte, zu zerstören. Wie ist heute der Umgang mit dem chinesischen Kulturerbe?
Heute wird die alte chinesische Kultur als Legitimationsressource der Kommunistischen Partei und des neuen Chinas betrachtet. Es hat sich eine völlige Verkehrung der Verhältnisse eingestellt: Die traditionelle chinesische Kultur dient wieder der Legitimation des neuen chinesischen Nationalismus.
Das wird etwa unterstützt durch den Bau überdimensionierter Museen an verschiedenen Orten Chinas, die nicht nur von ausländischen Touristen besucht werden, sondern auch von innerchinesischen Touristen. Diese stehen dann staunend im Shanghai-Museum, angesichts der 5000 Jahre alten chinesischen Kultur.
Mit Mao Zedongs Tod 1976 war auch die Kulturrevolution zu Ende. Das Vermächtnis waren rund eine Million Tote und ein grosser Scherbenhaufen. Die Kommunistische Partei ist in China immer noch an der Macht – wie schaut sie heute auf die Zeit der Kulturrevolution zurück?
Da die Kulturrevolution ein explizit politisches Thema ist, unterliegt sie völlig der Zensur. Man kann es sich in China nicht leisten, über die Kulturrevolution offen zu reden, sich offen damit auseinanderzusetzen.
Eine richtige Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution findet de facto nur im Exil statt. Es gibt in China unglaublich viel Material über die Kulturrevolution. Es gibt etwa chinesische Historiker, die zur Kulturrevolution geforscht haben. Aber diese Arbeiten können in China nicht veröffentlicht werden, sondern müssen ihren Weg ins Ausland suchen.
Es ist natürlich ein grosses Hemmnis auf dem Weg zu einem modernen, über sich selbst aufgeklärten China, dass über so entscheidende Ereignisse nicht offen gesprochen wird.
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Inwiefern spürt man die Kulturrevolution, deren Beginn jetzt 50 Jahre zurückliegt, heute noch in China?
Ich glaube es herrscht in China ein Klima des allgemeinen Misstrauens: Niemandem kann man trauen. Denn was in der Vergangenheit gewesen ist, kann einem plötzlich negativ angerechnet werden.
Besonders während der Kulturrevolution wurden die Lebensgeschichten vieler Leute offengelegt. Was früher ein Verdienst gewesen war, konnte damals wie heute zu einem negativen Faktum in der Lebensgeschichte werden.
Das daraus entstandene generelle Misstrauen ist, glaube ich, ein sehr schwerer Schaden, der die chinesische Gesellschaft bis heute belastet.
- Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 08. August 2016, 08:20 Uhr