Es ist sonnig an diesem Herbsttag in London. Der Bus bringt mich auf seinem langsamen Weg durch einige Londoner Stadtteile. Dann hält er in Chelsea, direkt an der Themse. Im elften Stock eines weitläufigen Apartment-Komplexes wohnt Marion Charles. Vor einem Jahr ist sie hierher gezogen, in die Wohnung ihrer Tochter. Nun sitzt die 86-Jährige auf einer Couch, geschminkt, die dunkelblonden Haare perfekt frisiert.
Jähes Ende einer glücklichen Kindheit
Marion Charles wurde 1927 in Berlin als Tochter eines Kleiderfabrikanten geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie umringt von ihren Puppen. Eine kurze glückliche Kindheit, die jäh endete, als ihre Religionszugehörigkeit plötzlich wichtig wurde: Die Familie Czarlinski, wie sie damals hiess, war jüdisch.
Bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wusste die junge Marion nicht einmal, dass sie sich damit von den meisten Kindern ihres Umfelds unterschied. Sie habe sich vor allem als Deutsche gefühlt und sogar Weihnachten gefeiert, sagt sie in immer noch perfektem Deutsch. Nicht zuletzt war diese Identifikation mit Deutschland auf den Vater zurückzuführen, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und verletzt als Held zurückkehrte.
Der Morgen nach der Kristallnacht
Dann kam jene grauenhafte Nacht des 9. Novembers 1938, die als Reichskristallnacht in die Geschichte einging. Teile der deutschen Bevölkerung zerstörten jüdische Geschäfte und Einrichtungen. Marion Charles hat in dieser Nacht im noblen Berliner Stadtteil Dahlem geschlafen.
Erst am anderen Morgen begriff sie, was in der Stadt los war, als Männer der Gestapo an ihrer Türe klingelten. Sie hätten ihren Vater gesucht, erzählt Marion Charles, doch glücklicherweise sei er mit Wanderfreunden unterwegs gewesen.
Flucht aus Deutschland
Angst bestimmte fortan das Leben der damals Elfjährigen. Bald schon war sie blankem Judenhass ausgesetzt. Dem Vater wurde die prosperierende Kleiderfabrik weggenommen und der Familie die grosse Wohnung. Man beschloss Deutschland zu verlassen und versuchte ein Ausreisevisum für ein anderes Land zu bekommen. Doch kein Land war bereit, die Familie aufzunehmen – wegen der Kriegsverletzung des Vaters.
Da entschlossen sich die Eltern, wenigstens ihre Tochter zu retten. Sie meldeten sie an für den Kindertransport nach London, denn Grossbritannien hatte seine Einreisebestimmungen gelockert, um wenigstens Kinder vor dem NS-Regime zu retten. Marion Charles hatte Glück: Sie bekam einen Platz.
Der Kriegsheld weint
An den Morgen ihrer Abreise am 4. Juli 1939 erinnert sich die heute 86-Jährige noch gut: Eigentlich habe sie sich auf die Reise gefreut, weil sie auch ein Abenteuer versprach. Doch in der Küche habe sie den Vater weinen sehen – da sei ihre Welt zusammengebrochen. Ihr Vater, der Kriegsheld, weinte.
Später habe der Vater sie zum Bahnhof gebracht; der Abschied, von den Nazis streng diktiert, hatte in der Bahnhofshalle zu erfolgen. Die Kinder mussten alleine in den Zug steigen. Doch viele Eltern hatten sich ausgerechnet, an welchen anderen Bahnhöfen Berlins der Zug mit ihren Kindern halten werde – und reisten dorthin, um sie nochmals zu sehen. Auch ihr Vater. Doch die Nazischergen hätten die Eltern vom Zug weggedrängt. Das letzte Bild, das sie von ihrem Vater habe, sei, wie er am Boden liege und von SS-Männern verprügelt werde.
London, 75 Jahre später
Das erzählt Marion Charles auf dem Sofa ihres Londoner Apartments, während hinter ihr eine grosszügige Fensterfront den Blick freigibt auf die Themse und das berühmte Riesenrad «London Eye». Und noch jetzt, fast 75 Jahre später, wühlen sie die Erinnerungen auf.
Immer wieder unterbrechen wir das Gespräch, damit sie sich sammeln kann. Auch wenn es sie anstrengt: Sie will ihre Geschichte erzählen, auch und gerade Kindern, die heute so alt sind wie sie damals. Deswegen hat sie ihre Erlebnisse für einen Jugendbuchverlag niedergeschrieben.
Gerettet, aber einsam
Ihren Vater hat sie nie wieder gesehen; er hat den Krieg nicht überlebt. In England war Marion Charles zwar gerettet, doch auch sehr einsam, hatte kaum Nachricht von ihren Eltern. Mehrmals musste sie die Gastfamilie wechseln.
Nach Kriegsende kam dann die gute Nachricht: Ihre Mutter hatte überlebt, versteckt bei einer Freundin. 1947 durfte sie endlich ausreisen und kam zur Tochter nach England. Es sei ein wunderbarer Tag gewesen, als ob man nie getrennt gewesen sei, erzählt Marion Charles.
Wie bei einer grossen Liebe
Lange ist Marion Charles in England geblieben. Doch Deutschland hat sie nicht losgelassen. 1974 hat sie dann eine Stelle in ihrer ersten Heimat angenommen. Bis heute hat sie zu Deutschland ein ambivalentes Verhältnis: Es sei wie bei einer grossen Liebe: Auch wenn man verletzt und betrogen werde, die Liebe bleibe bestehen.
Vor einem Jahr ist Marion Charles wieder nach England zurückgekehrt. Denn dies wisse sie genau: Als Mutter gehöre sie zu ihrer Tochter.