Nach den Terrormorden von Paris schrieb der Journalist und Blogger Sascha Lobo in «Spiegel Online», die westlichen Medien seien unfreiwillig für die Morde durch den «Islamischen Staat» (IS) mitverantwortlich: Die «massenmediale Begleitwarnung vor den Greueltaten» wirke bei manchen Personen eher als «Adelung». Das westliche Mediensystem sei «Teil dieser Form von Terrorismus». Medien würden «islamistische und hochwirksame Propaganda (…) transportieren». Daraus müsse man Konsequenzen ziehen. «Aber welche?», fragt Lobo ratlos.
Das Abscheuliche darstellen?
Die im Internet zirkulierenden Enthauptungsvideos des IS etwa waren Extremfälle. Soll man über diese Abgründe menschlichen Handelns berichten? Susan Boos, Inlandredaktorin der «WochenZeitung», und Hansi Voigt, geschäftsführender Chefredaktor der Onlinezeitung «Watson», sind sich einig: «Selbstverständlich muss man darüber berichten. Die Frage ist: Wie?»
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Die «WochenZeitung» löste die Aufgabe, indem sie auf die lange westliche Geschichte von blutiger Intoleranz zurückblickte und auf die ökonomischen Zusammenhänge des IS einging. Susan Boos dazu: «Der IS ist darauf angewiesen, international zur Kenntnis genommen zu werden. Er muss deshalb möglichst krasse Inszenierungen produzieren. Die IS-Leute haben in der westlichen Gesellschaft gelernt, wie man sich inszeniert.» Greuelnachrichten als Marketinginstrument, um «Follower» zu rekrutieren – und die Medien als willfährige, weil schlagzeilenhungrige Helfer?
Innehalten, nachdenken
Laut Hansi Voigt hat die Redaktion von «Watson» schnell beschlossen, nicht die Enthauptungsvideos zu zeigen, sondern die Fotos, die die Ermordeten machten. «Als Online-Medium steht man immer unter Zeitdruck. Das verlangt den Redaktoren viel ab, weil eine solche Nachricht im ersten Moment einfach sensationell ist. Wir müssen uns daran gewöhnen, sehr schnell zu erkennen, dass man manipuliert und instrumentalisiert wird.»
Der Geschwindigkeitsdruck rührt von den sozialen Medien her. Irgendwer stellt immer Bilder und Kraftparolen ins Netz, so krass, krude und widerwärtig sie auch sein mögen. Die traditionellen Medien haben viel von ihrer Funktion als «gatekeeper» eingebüsst. Im Internet herrscht ein Wildwuchs. Dieser eröffnet den seriösen Medien jedoch Raum, ihre Stärken auszuspielen: Hintergrund und Einordnung zu vermitteln.
Einzelfälle werden zu allgemeinen Aussagen
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Auch im Online-Hochgeschwindigkeitsbereich müsse es aber darum gehen, «nicht einfach nur den O-Ton auszustrahlen, sondern Fragen mitzuliefern. Das ‹Framing›, die Rahmung ist enorm wichtig», sagt Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Journalisten sollen nicht reflexartig reagieren, sondern Haltung zeigen und Verantwortung übernehmen.»
Das misslingt oft. Wenn etwa die «Aargauer Zeitung» in einem Artikel über einen Raser mit ausländischer Staatsbürgerschaft zwei Politiker (SVP: «pro Ausschaffung»; Grüne: «contra») zu Wort kommen lässt, fragt man sich, wozu das gut sein soll. Wenn nicht, um Stimmung zu machen. Oder, was «Watson»-Chef Hansi Voigt hervorhebt: Eine Zeitung leite aus einem Einzelfall – meist einem Delikt – allgemeine Handlungsanweisungen ab. Und finde natürlich den O-Ton, der die gewünschte Aussage dahinter untermauere.
Die Populismusfalle
Wer über populistische Forderungen berichten muss, hat ein Problem. Susan Boos: «Wenn es zum Beispiel um die Frage geht, ob man aus dem Dschihad zurückgekehrten Doppelbürgern den Pass wegnehmen soll … Schon bin ich in der Falle: Ich hab’s gesagt! Es ist eine extrem schwierige Frage: Wir müssen berichten und reflektieren und uns trotzdem fragen: Müssen wir es in dieser Breite tun? Müssen wir zu jeder Zeit auf alles aufspringen, was sie gerade wieder an verrückten Ideen platziert haben?»
Denn die vermeintlich vom Publikum nachgefragten lauten Töne sind problematisch. Wie es der Medienethiker Vinzenz Wyss formuliert: «Wenn ein Medienpopulismus auf einen politischen Populismus stösst, gibt es eine Kettenreaktion. Davon sollte man als Journalist Abstand nehmen und sich fragen: Inwiefern setzen wir selber die Agenda? Inwiefern lassen wir uns instrumentalisieren?» Diese Frage muss jedes Mal aufs Neue gestellt werden.