Mit Mikrofon und Stadtplan ausgerüstet tauche ich ab in den geschäftigen Untergrund von London. Mein Ziel: ein Café im Stadtviertel Brick Lane. Ein Quartier, ähnlich wie Zürichs Kreis 5 oder Kreuzberg in Berlin. Hip und jung und alternativ, mit Markt am Wochenende, bärtigen in Männergesichtern, Velos und gesundem Bio-Essen. Das Café, das ich suche, passt wunderbar hierher. Jedoch ist es nicht nur ein Café, sondern auch eine Kirche.
Die Café-Kirche in London
Zwischen kleinen Boutiquen und Tattoo-Studios finde ich sie: Kahaila, die Café-Kirche. Der Name Kahaila besteht aus den beiden hebräischen Wörtern «Chai» für Leben und «Kehila» für Gemeinschaft. Ich setze mich mit Kaffee und Kuchen an einen der wenigen freien Tische. Christine setzt sich zu mir, sie ist 26 und die Managerin von Kahaila.
Christine erzählt, wie Pfarrer Paul Unsworth auf die Idee dieser ungewöhnlichen Kirche kam: «Paul war an einem Sonntag in der Brick Lane und sah all die vielen Menschen auf dem Markt. Er sah auch, wie Vertreter verschiedener Religionen dort waren und versuchten, die Leute zu erreichen. Nur die Christen, die sah er nirgends. Da dachte er: Eigentlich müssten wir doch auch Teil dieser Gemeinschaft sein!»
Dahin gehen, wo die Menschen sind
Genau dies, wieder Teil der Gemeinschaft zu sein, ist die Idee hinter einer Initiative, die ursprünglich von der anglikanischen Kirche ins Leben gerufen worden war. Vor zehn Jahren beschloss die Church of England, so könne es nicht mehr weitergehen: Kirchengebäude verwahrlosten, Gemeinden serbelten vor sich hin – Kirche im herkömmlichen Sinn interessierte im säkularen England niemanden mehr. Also entwarf man die «Fresh Expressions of Church».
Die Schweizerin Sabrina Müller, Pfarrerin in Bäretswil, hat zu diesem Thema geforscht und erklärt: «In den ‹Fresh Expressions› besinnt man sich wieder stark auf die Sendung Gottes. Das heisst, die Kirche und die Pfarrpersonen gehen zu den Menschen hin und überlegen im jeweiligen Kontext, was es heisst, hier Kirche zu sein.»
Neue Formen braucht das Land
Auch in der Schweiz ringen die Landeskirchen um Mitglieder, Kirchen werden umgenutzt, Gemeinden fusioniert. Die reformierte Landeskirche im Kanton Zürich hofft, dass die «Fresh Expressions» eine Möglichkeit sind, den Niedergang zu stoppen.
Sabrina Müller ist überzeugt, dass es sowohl die traditionelle Form, als auch die neuen Formen von Kirche braucht: «Nicht alle haben das Bedürfnis am Sonntagmorgen in den Gottesdienst zu gehen – klar ist das auch wichtig, aber es sollte nicht die einzige Form von Kirche sein.»
Gottesdienst und Metalchurch
Aber bedeutet das nicht, verschiedene Kirchen für verschiedene Szenen zu schaffen? Die Pfarrerin und Doktorandin widerspricht: «Wenn wir ehrlich sind, sind wir ja jetzt schon nur noch Kirche für eine bestimmte Szene: Bei mir kommen ausschliesslich Leute aus dem bürgerlich-traditionellen Milieu in den Sonntagmorgen-Gottesdienst, auch die jungen Erwachsenen darunter sind keine Experimentalisten oder wie man dem sagen will.»
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Die Idee der «Fresh Expressions» wird heute in der Schweiz bereits gelebt, so etwa im Sonntagszimmer in der Matthäuskirche in Kleinbasel oder in der Metalchurch in Bern. Auch in diesen Beispielen geht es darum, die Inhalte der Kirche, des Evangliums in den jeweiligen Kontext zu übersetzen.
So «fresh» ist die Idee nicht
Dass die Kirche diese Übersetzung in veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten leisten kann, ist ihr zu wünschen. Doch ob es dazu das Label «Fresh Expression» braucht, bleibt offen.
Schliesslich funktioniert zum Beispiel die Heilsarmee seit jeher genau nach dem Prinzip: Dorthin gehen, wo man gebraucht wird. Das Prinzip von Kirche, mitten in die Gesellschaft hineinzugehen und dort dann die Wünsche und Bedürfnisse abzuholen, hat natürlich nicht nur die Heilsarmee verinnerlicht.
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Weniger nach Grossbritannien schielen
Auch einzelne Pfarrpersonen verstehen ihr Pfarramt nicht als rein an das Kirchgebäude und den Sonntagmorgengottesdienst gebunden. Die reformierte Kirche im Kanton Sankt Gallen etwa hat eine Projektstelle geschaffen für «spirituelles Leben mit jungen Erwachsenen»; der Leiter und Pfarrer Patrick Schwarzenbach geht dabei sehr experimentell vor. Zuletzt het er mit jungen Erwachsenen für eine Woche auf der Strasse gelebt.
Doch den Mut, diese Projekte auch tatsächlich Kirche zu nennen, den hat die reformierte Landeskirche noch nicht gefunden.