Etwas Grosses hätte es werden sollen: Occupy wollte die Macht der Banken über den Haufen werfen und soziale Ungerechtigkeiten beheben. Ausgehend von der Finanz- und Wirtschaftskrise protestierten 2011 vielerorts Tausende – vom Arabischen Frühling über die spanischen Indignados bis zu Occupy Wall Street. Einer ihrer wichtigsten Vordenker war David Graeber, US-Anthropologe und Anarchist.
Ein Slogan geht um die Welt
Als «intellektuellen Superstar» von Occupy betitelte «Die Zeit» Graeber. Er begründete den Slogan: «Wir sind die 99 Prozent» – basierend auf der Aussage, dass ein Prozent der Menschheit alle Macht horte. Der Professor war nicht nur gedanklich, sondern auch physisch dabei, als Occupy Wall Street den New Yorker Zuccotti-Park besetzte. Denn Graeber ist seit jeher nicht nur Denker, sondern auch Aktivist.
Der heute 52-Jährige hat in Madagaskar Feldforschung betrieben und darüber promoviert; danach wurde er nach Yale berufen. 2007 wurde David Graebers Vertrag nicht mehr verlängert, trotz seines guten fachlichen Rufs. Der Akademiker hat eine Vergangenheit als politisch-sozialer Anarchist: Er hatte sich an Protesten gegen den IWF, die G7 und das WEF beteiligt. Und er lehrte Ethnologie am Goldsmiths College der University of London und ist Professor an der School of Economics.
Schulden? Einfach nicht zurückzahlen
In seiner einflussreichen Monographie «Schulden: Die ersten 5000 Jahre», die im Sommer 2011 herauskam, analysiert Graeber die Geschichte der Menschheit als eine der Schulden. Seine These: Revolten entstehen immer dann, wenn die Schulden zu gross werden und nicht mehr beglichen werden können.
Graebers Lösungsvorschlag ist so radikal wie einfach: Schulden muss man nicht zurückzahlen. Sie seien ein Machtinstrument der Einflussreichen: «Alle Wirtschaftsgeschichte ist ein Krieg zwischen Gläubigern und Schuldnern, und die Beschaffenheit des Geldes gibt das Schlachtfeld ab.»
Kritik ohne Konzept
Graebers Ideen fanden Anklang: Im Oktober 2011 versammelten sich in 600 Städten weltweit Menschen, um für eine gerechtere Gesellschaft zu demonstrieren. An vielen Orten entstanden daraufhin Zeltlager. Gross war nicht nur die Anzahl der Anhänger, sondern auch das mediale Interesse. In der «New York Times» erschienen innerhalb von drei Monaten über 400 Artikel zum Thema.
Was aber wollte die Bewegung? Darin war man sich von Anfang an nicht einig. David Graeber behauptet, konkrete Forderungen seien kontraproduktiv: «In dem Moment, in dem man Forderungen stellt, gibt man seine Machtlosigkeit zu.» Längerfristig genügten die abstrakten Ziele aber offensichtlich nicht, um die Occupy-Anhänger zu mobilisieren.
Hierarchie ist von gestern
Sendungen zum Thema
- David Graeber («Echo der Zeit» vom 11.10.2013) David Graeber («Echo der Zeit» vom 11.10.2013)
- Occupy Wall Street – zwei Jahre danach («Kultur kompakt», 17.09.) Occupy Wall Street – zwei Jahre danach («Kultur kompakt», 17.09.)
- Gespräch mit Stéphane Hessel («Reflexe», 9.1.13) Gespräch mit Stéphane Hessel («Reflexe», 9.1.13)
- Occupy Wall Street («Tagesschau» vom 17.11.2011) Occupy Wall Street («Tagesschau» vom 17.11.2011)
- «Occupy Wall Street» («Kulturplatz» vom 12.10.2011) «Occupy Wall Street» («Kulturplatz» vom 12.10.2011)
Occupy lehnt Hierarchien ab und zielt auf die Bedürfnisse der «einfachen Menschen». Laut Graeber war Occupy anfangs «ein Bündnis zwischen Kindern von Geistesarbeitern und talentierten Kindern der unteren Schichten, die sich eine bürgerliche Bildung erarbeitet hatten». Später stiessen Gewerkschaftler dazu.
In «Inside Occupy» beschreibt Graeber, der die zwei Elemente des Vordenkertums und des anarchischen Aktivismus vereint, die Ereignisse aus seiner Sicht. Er gibt zu, dass die Undefiniertheit und die fehlende Führungsstruktur von Occupy auch gewaltbereite linksextremistische Gruppen anzog. Die Folge: Sachbeschädigungen und Zusammenstösse mit der Polizei.
Das Ziel: eine gerechtere Welt
Heute ist die Bewegung abgeflaut. Irgendwann ging es weniger um den Aufbau eines neuen Systems, als um die Hygiene in den Camps und die Entsorgung der Abfallberge. Die Probleme mit der Obrigkeit taten ihr Übriges. Bis im Frühjahr 2012 hatten sich alle Camps aufgelöst oder wurden zwangsgeräumt.
Occupy wurde die Programmlosigkeit zum Verhängnis. David Graeber jedoch gibt nicht auf. Er ist überzeugt: Occupy habe das erste Ziel – die korrupten Regierungsstrukturen aufzudecken – erreicht. Fürs zweite, eine Demokratie ohne die Fusion aus Geld und Macht, braucht es laut Graeber breitere Allianzen. Die Welt muss gerechter werden, und sei es auch nur ein bisschen.