Hazel R. hebt ab. Langsam schwebt sie zur Decke, verspürt eine bisher nie da gewesene intellektuelle Schärfe: Als könnte sie jedes Problem mühelos lösen. Nur will ihr kein Problem einfallen.
Was Hazel R. viele Jahre zuvor in einem britischen Spital erlebt hat und Oliver Sacks nun in seinem neuen Buch beschreibt, ist eine Körperhalluzination. Provoziert wurde sie durch eine Heroin-Spritze, ein damals häufig eingesetztes Mittel gegen Schmerzen.
Geschichten einer fremden Welt
In «Drachen, Doppelgänger und Dämonen» verwandelt Oliver Sacks eine für viele Leser fremde und befremdliche Welt in Geschichten. Geschichten von Menschen, die hören, sehen oder riechen, was nicht ist. Dennoch sind sich die Betroffenen meist im Klaren, dass die Inhalte ihrer Wahrnehmung nicht real sind.
Menschen wie die erblindete Pensionärin Rosalie, die am Charles-Bonnet-Syndrom erkrankt ist – sie sieht Menschen in wallend-morgenländischen Gewändern vorbei gleiten. Personen wie Mrs. B., deren epileptische Anfälle jeweils mit einer Geruchsexplosion zu Ende gehen. Oder der schwer verletzte Bergsteiger Joe Simpson, der nach einem schrecklichen Sturz von einer befehlenden Stimme aus einer Anden-Gletscherspalte geführt wird.
Es kann jeden treffen
Halluzinationen werden meist reflexartig mit einer schizophrenen Erkrankung assoziiert. Es gibt aber viele Menschen, die auch ausserhalb einer Schizophrenie solche Sinnestäuschungen erleben. Jedes Gehirn kann unter grossem körperlichem oder seelischem Stress zu halluzinieren beginnen: in schweren Bedrohungssituationen, bei hohem Fieber, unter Alkohol- und Drogeneinfluss, wegen extremem Schlafmangel, andauerndem Reizentzug oder massiver Eintönigkeit.
Selbst gesunde Menschen können plötzlich Ufos und fremdartige Tiere sehen oder Stimmen von Verstorbenen, Kirchenglocken oder Zugsgeräusche hören. Dies bezeugen seit jeher die Berichte von Höhlenforschern, Polarreisenden und Seefahrern. Auch Ausdauersportler, Fernfahrer oder Menschen, die lange Stunden der Monotonie erleben, berichten von solchen Erlebnissen.
Selbstversuch mit Drogen
Doch Sacks schildert nicht nur die Wahrnehmungen anderer Menschen: Er selbst erlebte fantastische Visionen. Die Beschreibungen seiner eigenen drogeninduzierten Halluzinationen gehören zu den Highlights des Buchs. Sacks experimentierte als junger Mann in den 1960 Jahren mit vielerlei Substanzen wie Cannabis, LSD, Belladonna-Wirkstoffen oder Prunkwindensamen – letztere mit Vorzug verstampft und vermixt mit Vanille-Eis.
Seine Cocktails führten ihn in wundersame Welten. Eindrücklich schildert er, wie es nach einer Morphium-Injektion auf dem Ärmel seines Morgenmantels unruhig wurde: Es habe sich darauf eine historische Schlachtszene abgespielt, die er während zwölf Stunden fasziniert verfolgte.
Unvergessen auch sein Indigo-Erlebnis. «Jetzt will ich die Farbe Indigo sehen», habe er sich an einem Samstag im Jahr 1964 gesagt und sich eine pharmakologische Abschussrampe gemixt aus Amphetaminen (für die Reaktionsbereitschaft), LSD (für die halluzinogene Intensität) und Cannabis (für ein wenig zusätzliches Delirium). Es sei bis zum heutigen Tag das einzige Mal gewesen, da er das wahre Indigo geschaut habe.
Bilder hängen mit Hirnareal zusammen
In der ihm eigenen liebevollen und einfühlsamen Art stellt uns Oliver Sacks Menschen vor, die kurzzeitig oder chronisch Erfahrungen mit Halluzinationen gemacht haben. Er schildert das Erleben der Betroffenen und berichtet informiert über die neuesten Erkenntnisse der Forschung.
Sendungen zum Thema
Er berichtet von verblüffenden Übereinstimmungen zwischen bestimmten halluzinatorischen Inhalten und der Aktivierung spezifischer Hirnareale. So sind bei farbigen Halluzinationen z.B. jene Regionen der Sehrinde aktiv, die für die Farbverarbeitung zuständig sind. Sieht ein Halluzinierender Gesichter mit übergrossen Augen und Zähnen, ist das Hirnareal beteiligt, das für die Repräsentation von Augen, Zähnen und anderen Teilen des Gesichts zuständig ist.
Bekannt seit der Antike
Doch Oliver Sacks blickt auch in die Vergangenheit. In die Zeit, als Halluzinationen oft kulturell eingebunden waren – Man denke an die Epileptiker der Antike und ihre Heilige Krankheit oder an die mittelalterlichen Visionäre und Mystikerinnen.
Sacks versucht dem Phänomen der Halluzinationen den Schrecken zu nehmen, indem er hauptsächlich Menschen beschreibt, deren Halluzinationen ausschliesslich körperliche Ursachen haben. Menschen, die im Fieber, beim Einschlafen oder durch Drogen in erweiterte Bewusstseinszustände geraten sind.
Einseitiger Fokus
Diese Einschränkung ist hilfreich, zugleich aber auch schade. Interessant wäre es, mehr über jene Menschen zu erfahren, die im Rahmen eines Traumas, einer Depression oder einer Schizophrenie hören, sehen und spüren, was andern verborgen bleibt. Deren subjektives Erleben erhält von Fachleuten auch heute noch nur wenig Beachtung.
Obwohl der grosse Schweizer Psychiater Eugen Bleuler schon 1911 erkannte, dass die Stimmen, die seine Patienten hörten, eng mit ihren psychischen Zuständen zusammenhingen. Er verstand, dass Halluzinationen – so bizarr sie auch scheinen mögen – durchaus sinnhafte Sinneswahrnehmungen sind.