20 Jahre nach dem blutigen Bosnienkrieg liegen Sarajevo und Bosnien-Herzegowina im toten Winkel der westeuropäischen Aufmerksamkeit. Ganz anders das Interesse aus dem Osten: Al Jazeera und die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua sind sehr präsent.
Dabei verdient Sarajevo Aufmerksamkeit. Auch vom Westen. Und zwar jetzt. Weniger wegen des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg, der vor 100 Jahren in Sarajevo ausbrach. Weniger wegen des brutalen Bosnienkriegs vor 20 Jahren. Sondern vor allem, weil die Menschen zum ersten Mal das Experiment der Zivilgesellschaft wagen.
Bosnien-Herzegowina war 400 Jahre unter osmanischer, 40 Jahre unter österreichisch-ungarischer Herrschaft und 70 Jahre lang Teil des königlichen und des Tito-Jugoslawien. Noch heute ist es unter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft, als Folge des Bosnien-Kriegs.
Junge, smarte Frauen als Wortführerinnen
Im Februar 2014 kam es zum ersten Mal zu gewalttätigen Protesten. Einzelne Regionalregierungen traten zurück. In Sarajevo und anderen Städten bildeten sich Bürgerversammlungen, genannt Plenum. Einmal pro Woche treffen sie sich, formen Arbeitsgruppen parallel zu den Ministerien und entwerfen Forderungen. Ein Hauch von DDR-Montagsdemonstrationen liegt in der Luft.
Aber der Ausgang ist völlig offen. Man trifft junge, smarte Frauen als Wortführerinnen. Aber entweder haben sie im Ausland studiert oder stammen aus dem Ausland. Wie die 26-jährige Katarina Cvikl aus Slowenien, die für den Think Tank «Populari» in Sarajevo arbeitet. Sie hält der bosnischen Jugend gnadenlos den Spiegel vor. Nicht nur die schlimme Vergangenheit sei Grund für die bosnische Misere. Auch die Lethargie der Jugend.
Bosnische Lethargie: TV statt Proteste
An der Plenum-Veranstaltung in Sarajevo ist die intellektuelle «Crème de la Crème» zu finden. «Die Normalbürger warten ab und sitzen vor dem Fernseher», gibt Shejla Sehabovic zu, die in Tuzla die ersten Proteste mitorganisiert hat. Auf der Strasse demonstrieren täglich Ältere, Arbeitslose oder Rentner, nicht die Jugend.
Dennoch ist der Protest für Bosnien-Herzegowina etwas Aussergewöhnliches. Und das Land ist reif für einen Wandel. Denn es ist unglaublich bürokratisch, gibt es doch für 4 Millionen Einwohner 160 Ministerien, alle aussergewöhnlich korrupt. «Pro Jugendlicher pro Jahr gibt das Land einen Euro aus», sagt die Schweizer Nonne Schwester Magdalena, die seit 14 Jahren in Bosnien-Herzegowina lebt.
Sarajevo liegt im toten Winkel der westlichen Aufmerksamkeit. Dabei spielt sich hier ein spannendes Experiment einer entstehenden Zivilgesellschaft ab, und der Schmelztiegel der Religionen und Ethnien ist faszinierend.