Was ist eigentlich passiert? Mit dieser Frage tauchte ich vor einem Jahr in den November 1986 ein, und ich bin noch nicht wieder aufgetaucht. Damals war ich 15 Jahre alt und bedauerte, dass das angekündigte Radiospiel zum 3. Geburtstag des jungen Lokalsenders nicht stattfinden konnte.
Sterbender Schwan auf der Bühne ...
Überhaupt war die Stadt in Feierlaune. Es war Herbstmesse. Das Schweizer Fernsehen hatte Stunden vorher eine Live-Übertragung von «Schwanensee» aus dem Basler Stadttheater erfolgreich beendet.
Man konnte spektakulär auf zwei Kanälen hin- und herzappen, wählen zwischen Backstage oder sterbendem Schwan. Ein Medienereignis!
... dann auf dem Rhein
Dann brannte die Lagerhalle 956 auf dem Areal der Firma Sandoz in Schweizerhalle. 1351 Tonnen Agrochemikalien gingen wenige Kilometer von Basel in die Luft und in den Rhein.
Balletttänzer gerieten, betrunken von der Premierenfeier, direkt ins Heulen der Sirenen. Polizeilautsprecher verhängten eine Ausgangssperre.
Und eine ganze Region wusste vier Stunden lang nicht, ob der trockene Gestank tödlich, gesundheitsschädlich oder harmlos ist? Aus dem sterbenden Schwan im Theater war ein toter Rhein geworden.
Sandoz-Mitarbeiter werden bespuckt
Wenige Tage später war das Stadttheater erneut Schauplatz eines Medienereignisses.
Vertreter der Firma Sandoz wurden bei einer Publikumsdiskussion bespuckt und mit toten Fischen beworfen. Die aufgebrachten Basler wollten wissen: was ist eigentlich passiert?
Dieselbe Frage führte mich 30 Jahre später noch einmal zum Sendemitschnitt der Katastrophennacht von Radio Basilisk. Sie führte weiter ins Tonarchiv der SRG, in die Zeitungsarchive, und sie führte mich mit vielen Zeitzeugen zusammen.
Recherche über unsere Risikogesellschaft
Auch 30 Jahre später kam ich noch einmal ins Staunen. Darüber, was da alles an Vor-, Neben- und Nachgeschichten zum Vorschein kam.
Dass das Seveso-Gift mitten in Basel verbrannt worden ist, dass Basel umgeben ist von illegalen Sondermülldeponien, dass die Muttermilch in der Region Basel mit erheblichen Schadstoffen belastet ist.
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- «Schweizerhalle» auf der Bühne (Kultuplatz, 19.10.2016) «Schweizerhalle» auf der Bühne (Kultuplatz, 19.10.2016)
- Der Brand von Schweizerhalle 1986 (Kontex, 1.11.2016) Der Brand von Schweizerhalle 1986 (Kontex, 1.11.2016)
- Der Brand von Schweizerhalle (Dok, 19.07.2011) Der Brand von Schweizerhalle (Dok, 19.07.2011)
Ausserdem, dass die Unfallstelle trotz millionenschweren Sanierungsmassnahmen bis heute das Grundwasser bedroht, dass es in den Basler Chemiefirmen zwei weltweit beachtete «Whistleblower»-Skandale gab.
Aus einer Recherche über «Schweizerhalle» wurde plötzlich eine Recherche über unsere Risikogesellschaft und über die Mentalität in Grosskonzernen.
Ärzte fliehen, Kinder gehen zur Schule
Selbst wenn man nur auf die Katastrophennacht fokussiert, erfährt man groteske Details.
Zum Beispiel dass die Schweizer Grenzbeamten plötzlich Gasmasken überzogen, während ihre französischen Kollegen auf der anderen Strassenseite von nichts wussten. Mehrere Ärzte und der damalige Fernmeldechef sollen aus der Stadt geflüchtet sein.
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Tragische Entdeckungen
Man findet heraus, wer wirklich den Entscheid, die Kinder in die Schule zu schicken, zu verantworten hatte.
Man entdeckt tragische Schlüsselfiguren, erfährt, dass der Krisenstab Radio Basilisk wegen Panikmache abschalten wollte, dass ein Chefarzt die Seiten aus dem Notfallbüchlein der Unglücksnacht herausgerissen haben soll, und man erkennt: diese Recherchen können kein Ende haben.
Annäherungen an die Wahrheit
Die Geschichte von «Schweizerhalle» ist genauso grenzenlos, wie das in den Rhein gelangte Quecksilber zeitlos ist. Man muss einen künstlichen Punkt setzen, einen Zeitpunkt.
Am 1. November 2016 jährt sich der Chemiebrand von Schweizerhalle zum 30. Mal.
Theater und Hörstück zum Thema
Zu diesem Anlass habe ich aus diesem dramatischen «Schadstoff» einerseits eine Hörcollage für Radio SRF und andererseits ein Theaterstück für ein freies Basler Theaterensemble zusammengebraut.
Zwei formal höchst unterschiedliche Annäherungen an ein und dieselbe Frage «Was ist eigentlich passiert?»