Es gibt Bücher, die Augen öffnen. «Sex und die Zitadelle» von Shereen El Feki ist ein solches Buch. Es strotzt nur so von Erzählungen, Einblicken und Erkenntnissen über das unbekannte Liebesleben in arabischen Ländern und deren Gesellschaften. Shereen El Feki deckt dabei die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen Sexualität, Religion, Tradition, Politik und Ökonomie auf. Einfacher gesagt: Die Art und Weise, wie Mann/Frau, Mann/Mann, Frau/Frau vögeln, erzählt viel über den Zustand der Gesellschaft, in der Frau/Mann lebt.
Von der Immunologin zur Sexualforscherin
Angefangen hat Shereen El Fekis Entdeckungsreise als Immunologin. Als Vize-Direktorin der «Global Commission on HIV» der UNO wunderte sie sich, wie gering die Zahlen der HIV-Infektionen im arabischen Raum im Vergleich zur restlichen Welt ausfielen. Wie konnte das sein im Zeitalter von Massentourismus und Massenmigration? Gab es in den Ländern Nordafrikas kein riskantes Sexualverhalten, keinen ungeschützten Sex? Auch keine Infektionen durch Injektionsnadeln oder Blutkonserven?
El Feki, Tochter eines Ägypters und einer Waliserin, im Westen mit einer gesunden Prise Skepsis aufgewachsen und gleichzeitig vertraut mit der Kultur und den Traditionen Ägyptens, begann eine fünfjährige Forschungsreise – und entdeckte ein sexuelles Klima, das durch Religion und gesellschaftliche Zwänge geprägt war. Sex, so konstatiert Shereen El Feki, findet hauptsächlich nur in einer Zitadelle, einer Festung statt. Und die heisst: Ehe. Alles andere ist «haram», verboten.
Doch diese Zitadelle der Ehe ist für viele unerreichbar. Wer von den Jungen kann sich in den ökonomisch schwachen Ländern eine Heirat leisten? Und was machen diejenigen, die nicht heiraten wollen? Junge Frauen zum Beispiel, die studieren oder nicht der traditionellen Rolle der Ehefrau entsprechen? Wo findet gleichgeschlechtlicher Sex seinen Platz?
Dabei war das sexuelle Klima früher offener und lustvoller. Shereen El Feki zitiert Gustave Flauberts amouröse Abenteuer während seiner Ägyptenreise 1849, die dem berühmten Schriftsteller Ausschweifungen jeglicher Art bescherten. Oder den grossen Gelehrten Ali ibn Nasr al-Katib, der im Bagdad des 11. Jahrhunderts «Die Enzyklopädie der Lust» schrieb. 45 Kapitel über alle erdenklichen sexuellen Praktiken, darunter Kapitel wie «Über die Steigerung der Lust bei Mann und Frau».
«Niemand soll über seine Frau herfallen wie ein Tier»
Dass die Religion, also der Islam, Schuld an der sexuellen Unterdrückung trage, relativiert Shereen El Feki. Es sind vielmehr die konservativen Bannerträger der reinen Lehre, die – wie in jeder anderen Religion auch – freie Sexualität verteufeln. «Die Scharia ist ein Text, der im Sinne sexueller Freiheit oder im Sinne der Unterdrückung interpretiert werden kann», beschreibt der marokkanische Soziologe Abdessamad Dialmy das Dilemma. Dabei hatte der Prophet Mohammed persönlich die Freuden der Sexualität gerühmt. «Niemand soll über seine Frau herfallen wie ein Tier», soll er gesagt und stattdessen «den Kuss und süsse Worte» vorgeschlagen haben. Der Prophet als erotischer Connaisseur.
Davor verschliessen jedoch die Konservativen, die seit 1970 immer mehr Einfluss gewannen, ihre Augen. Muslimbrüder und Salafisten zementieren ihre rigiden Moralvorstellungen und beschneiden das Menschenrecht auf sexuelle Freiheit. Das Streben nach einem glücklichen, selbst bestimmten Sexualleben ohne Zwang, Diskriminierung und Gewalt – für die Religiösen entspricht das dem Schreckensbild eines westlichen Lebensstils, der die traditionellen Werte des Islam unterwandert. So bleibt Sex ein Tabu: verschämt, verdruckst und unterdrückt.
Was ist ein Vibrator?
Entscheidend ist für Shereen El Feki das Fehlen jeglicher Aufklärung. Wissen um Sexualität fehlt, jedoch ist die Wissbegierde gross. Spätestens seit das digitale Zeitalter erotische Bilder und Pornografie in jeden Kopf schleudert, entsteht eine immer grösser werdende Kluft zwischen sexuellen Vorstellungen und sexueller Praxis.
Shereen El Feki hat viele getroffen, die sich als Vermittlerinnen oder als Aktivisten für eine sexuelle Öffnung engagieren. Bei Recherchen im privaten Umfeld wurde sie oft als «Doctura Shereen, die Dame, die Reproduktionsmedizin und eheliche Beziehungen erforscht» vorgestellt, nur um das Wort Sex nicht in den Mund nehmen zu müssen.
Doch die Bedürfnisse, aus der Zitadelle auszubrechen, sind enorm. Heba Kotb, die als berühmteste Sexualtherapeutin Ägyptens in ihrer Aufklärungssendung im privaten TV über Tabuthemen wie Jungfräulichkeit oder Genitalverstümmelung spricht, beschreibt die Kommunikationsunfähigkeit der arabischen Gesellschaft: «Männer und Frauen wissen nicht, dass sie über ihre sexuellen Wünsche kommunizieren sollen. Sie wissen nicht, dass Sexualität etwas ist, worüber wir reden können.»
Aber auch Heba Kotb ist gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr. Kopf und Hals von einem «Hijab» verhüllt, nimmt sie in ihrer TV-Show Anrufe entgegen und erörtert die Fragen mit einem liberalen Iman. Dennoch wird sie angefeindet – angesichts neuerer «Fatwas», neuerer Rechtsgutachten islamischer Autoritäten, die Oralsex oder Nacktheit im Bett verbieten.
Sexuelle Gewalt verbreitet
Wo derart viele Tabus herrschen, sucht sich Sexualität Ventile. Sexuelle Belästigungen von Frauen und Mädchen sind in arabischen Ländern nicht gerade selten. Shereen El Feki liefert erschreckende Zahlen. In kleineren und mittleren Städten Ägyptens wurde mehr als die Hälfte der 10- bis 29jährigen Frauen sexuell belästigt. In den Grossstädten Kairo und Alexandria sind diese Zahlen weitaus höher. Und es sind nicht nur das Angaffen oder anzügliche Bemerkungen, denen Frauen ausgesetzt sind. Grapschen und Betatschen in öffentlichen Verkehrsmitteln sind an der Tagesordnung.
Seit der Revolution nimmt sexuelle Gewalt auch als politische Waffe zu. Demonstrantinnen auf dem Tahrir-Platz oder in engen Nebengassen werden immer öfter von politisch Andersdenkenden Männern eingekreist, entkleidet, befingert, vergewaltigt.
Aber diese brutalen Formen sexueller Gewalt werden nicht mehr verschwiegen. Seit der Revolution sprechen Frauen aus, was ihnen widerfährt. Sie klagen an, sie wollen gesellschaftliche Veränderung. Sie demonstrieren, gründen Selbsthilfegruppen. Selbstverteidigungskurse boomen.
Sturm auf die Zitadelle
Trotz aller Tabus und Verbote ist Shereen El Fekis Buch voller Anzeichen einer langsamen Veränderung. Ja, das Buch selbst ist ein Beitrag zu einer neuen Offenheit, in der eine neue junge Generation die alten patriarchalen Strukturen in den arabischen Ländern hinterfragt.
Shereen El Fekis Buch will die Zitadelle stürmen, in der Sexualität eingesperrt und mit vielen Tabus belegt wird. Neben der Bestandesaufnahme von Unterdrückung beleuchtet sie auch die Nischen, in denen sich die sexuelle Revolution langsam ihre Räume erobert. Sie berichtet über Homosexualität, käufliche Liebe, oder über die lustvollen Spielarten des Sexuellen.
Und wenn sie Brücken schlägt zu Fragen der Politik, der Ökonomie, zu Tradition und Religion, dann lichtet sich der Schleier einer Welt, von der wir glauben, viel zu wissen, die uns de facto aber verschlossen bleibt. Shereen El Fekis Leitmotiv, dass eine wirkliche Veränderung in den arabischen Ländern nur durch sexuelle Befreiung möglich wird, provoziert. El Feki belegt ihre These aber durch die vielen Verweise auf die grosse kulturelle Vergangenheit. Fast beschwörend zitiert sie den tunesischen Soziologen Abdelwahab Bouhdiba, der in «La Sexualité en Islam» beschrieb, wie die Araber die spirituelle Dimension der Sexualität unterdrückten: «Diese offene Sexualität, die mit Blick auf die Erfüllung des Daseins voller Freude praktiziert wurde, wich nach und nach einer verschlossenen, lustfeindlichen, unterdrückten Sexualität. Verstohlenes, heimlichtuerisches, heuchlerisches Verhalten nahm einen immer grösseren Raum ein. Die ganze Frische und Spontaneität wurde wie von einer Dampfwalze plattgemacht.»
Bouhdibas und auch Shereen El Fekis Vision beschreibt Sexualität als Dialog, in dem Mann/Frau den Sinn des Dialogs mit dem Partner, aber auch den Sinn des Dialogs mit Gott wiederentdeckt: «Denn eine Sexualität, die angemessen praktiziert wird, ist gleichbedeutend mit gelebter Freiheit.»