«Das Reh springt hoch, das Reh springt weit – warum auch nicht, es hat ja Zeit.» Lars Ruppel, einer der bekannten deutschen Slampoeten, steht in der Mitte eines Stuhlkreises im Aufenthaltsraum der Seniorenbetreuung Schloss Schliestedt im deutschen Schöppenstedt und rezitiert Heinz Erhardt. Um ihn herum sitzen Menschen mit Demenz und ihre Pflegenden. Es ist «Weckworte-Zeit». Demenzpatienten sollen mit Gedichten aktiviert, ja «geweckt» werden.
Den Schleier des Vergessens lüften, wenn auch nur für kurze Zeit, das ist Ruppels Ziel – und dieses Ziel sollen an diesem Vormittag auch die Pflegerinnen und Pfleger in Schloss Schliestedt haben. Von Ruppel lernen sie, wie man Poesie überzeugend, lebendig und seelenvoll an die Patienten heranträgt, wie sich Sprache zusammen mit einer Berührung verschenken lässt und wie man die Patienten dadurch in einen kreativen Prozess integriert.
Aus Amerika importiert
Das Konzept «Alzpoetry» kommt aus Amerika. Der US-Schriftsteller Gary Glazner gründete das «Alzheimer's Poetry Project» vor mehr als zehn Jahren. Lars Ruppel besuchte einer seiner Workshops. Was der 31-Jährige da erlebte, beeindruckte ihn so sehr, dass er beschloss, «Alzpoetry» zu seinem Beruf zu machen. Unter dem Titel «Weckworte» importierte er «Alzpoetry» in den deutschsprachigen Raum.
Die Methode zeigt zum Teil erstaunliche Wirkung: «Bei Poesie muss das Gehirn die ganze Zeit Strukturen suchen, es wird provoziert und herausgefordert», erklärt Lars Ruppel. Erinnerungen werden aktiviert, Reaktionen herausgekitzelt – all das mit einem, wie Ruppel sagt, «total veralteten, analogen und unfassbar direkten Medium»: dem Gedicht.
Die Pfleger wird miteinbezogen
Ruppel arbeitet nicht nur mit Klassikern. Demenzkranke Menschen hätten ein Recht darauf, ihre kulturelle Biografie weiterzuleben: «Ein Mensch, der ein Leben lang Bücher liest, Filme anschaut und Lieder hört, hat sich eine kulturelle Identität erarbeitet – die muss fortgeführt werden.»
An diesem Vormittag hat Lars Ruppel Tucholsky, Ringelnatz, Hanns Dieter Hüsch und Heinz Erhardt im Gepäck: überraschende, humorvolle Reime. Er fordert die Pflegenden auf, nach Gedichten zu suchen, die sie selbst inspirieren. Das soll ihnen das Gefühl geben, sich kulturell in die Pflegearbeit einbringen zu können. Denn: Nicht nur die Patienten, sondern auch die Pflegenden sollen aufgeweckt werden. Pflege, sagt Ruppel, solle ein Ort der Kultur, des lauten Lachens und der wilden Lieder sein – ein hehres Ziel, das sich wohl oft nicht vereinbaren lässt mit den engen Zeitplänen der Pflegearbeit.
Frau Axenfeld ist empört
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Ein Gedichtvortrag kann den Prozess der demenziellen Veränderung nicht aufhalten, dessen ist sich Ruppel bewusst. Sein einziger Beweis, dass das, was er macht, einen positiven Einfluss auf die Atmosphäre im Pflegealltag hat, sind die Reaktionen im Moment, wo er da ist. Während drei Stunden vermittelt Ruppel authentisch und mit viel Witz, wie man mit Sprache spielt und welche Kraft ein Wort oder ein Satz haben kann, wenn man ihn an jemanden verschenkt.
Seine Methode funktioniert: Die Patienten bleiben sitzen und staunen, was passiert. Ihre Augen flackern, sie lachen, glucksen und plaudern. Einzig Frau Axenfeld ist empört. Sie findet das alles unglaublich und beschwert sich. Nur einmal, da streckt sie der Frau, die ein Gedicht vorträgt, zögernd ihre Hand entgegen, nickt mit dem Kopf, die Augen geschlossen, ein leises Lächeln im Gesicht. «Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Gott nahm in seine Hände meine Zeit.»