Was für eine Biografie: Ein drei Wochen alter Säugling wird in ein Kinderheim eingeliefert. Seine Mutter war selber Heimkind, Tochter fahrender Eltern. Sie kann sich nicht um das Baby kümmern, weil sie als alleinstehende Frau arbeiten muss. Jahrelang kennt der Junge nur die Welt des Heimes, eine von Ingebohler Schwestern geführte Institution in Grenchen. Er erlebt Kälte, Demütigungen und Misshandlungen als protestantisches Kind in der katholischen Institution. Später wird er verdingt.
Misstrauen gegen symbolische Gesten
Das Heimkind von einst heisst Roland Begert und ist heute 77 Jahre alt. Er hält nichts von Entschuldigungen und Entschädigungen: Roland Begert misstraut generell symbolischen Gesten. Doch er kann nachvollziehen, dass sie für andere wichtig sein können. «Ich brauche keine Entschuldigung von einer Politikerin, wie es Bundesrätin Sommaruga getan hat. Ich brauche auch keine finanzielle Entschädigung: Ich habe meinen Lebensweg machen können.» Aber, sagt Begert, er habe verstanden, dass es viele ehemalige Verding- und Heimkinder gebe, die sich sehnlichst eine Entschuldigung wünschten. Einige von ihnen hätten nicht die Kraft und die Fähigkeit gehabt, sich selber zu entwickeln, manche lebten heute in grosser Armut: «Ihnen muss nun geholfen werden.»
Runder Tisch: Wer soll Geld erhalten?
Im Frühjahr hat der nationale «Runde Tisch» einen Soforthilfefonds eingerichtet für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, im Sinne einer befristeten Überbrückungshilfe. Dieser vom Bund eingerichtete Tisch mit Betroffenen und Vertretern aus Behörden, Institutionen, Kirchen, und Bauernverband soll mithelfen, das düstere Kapitel aufzuarbeiten.
Das Gremium schlägt vor, langfristig einen Solidaritätsfond einzurichten – wie es im Bericht vom 1. Juli heisst – und zwar für alle Geschädigten: «Alle Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung haben gelitten, deshalb sollen auch alle eine Leistung erhalten. Der individuelle wirtschaftliche Erfolg soll deshalb nicht berücksichtigt werden.» Einzig der Bauernverband möchte die Entschädigungen des Solidaritätsfonds lieber auf Härtefälle beschränken.
Nicht alle Betroffenen verarbeiten das Erlebte gleich
Roland Begert hat den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft. Er studierte, doktorierte und wurde Gymnasiallehrer. Er schrieb zwei biografische Romane: «Lange Jahre fremd» (2008) und «Die letzte Häutung» (2012).
Er ist sich seiner privilegierten Lage bewusst. Dass es auch anders laufen kann, kennt Roland Begert aus eigener Erfahrung: Sein älterer Bruder, der im selben Heim aufgewachsen ist, hat es bis heute schwer. Er lebt seit Jahren von der Fürsorge, Begert und seine Frau unterstützen ihn – auch finanziell. «Er hat viel stärker unter den Folgeschäden zu leiden als ich.»
Es ist bekannt, dass jedes Kind anders auf körperliche und seelische Misshandlungen reagiert. Nicht alle haben die Kraft und Unterstützung, einen Weg aus der Misere zu finden, schon gar nicht für eine Karriere wie jene von Roland Begert. Er sei im Säuglingsalter ins Heim gekommen und besitze gar keine Vergleichsmöglichkeit, wie das Leben im Schutzraum eines Elternhauses hätte ablaufen können, erzählt er. «Die Heimschwestern waren für mich komische, Angst einflössende Gestalten. In ihren langen Ordenskleidern konnte ich nicht beurteilen, ob sie männliche oder weibliche Wesen waren. Wir durften sie nie berühren oder ihnen nahe kommen. Körperliche oder emotionale Zuwendung gab es nicht.»
«Für Dich kann es nicht so schlimm gewesen sein»
Sind solche Traumatisierungen mit Geld aufzuwiegen? Begert ist skeptisch. Aber er möchte nicht auf eine finanzielle Zuwendung verzichten, falls diese ausgerichtet wird. Denn er hat nach der traumatischen Heim- und Verdingzeit für seine Karriere hart kämpfen und viele Opfer bringen müssen. Nicht alle sehen das gleich. «Manchmal sagen ehemalige Heim- und Verdingkinder: ‹Du hast es geschafft, Du warst 30 Jahre lang Gymnasiallehrer, Du hast einen Doktor. Für Dich kann es nicht so schlimm gewesen sein›.»
Nur den heute notleidenden Betroffenen zu helfen, findet Roland Begert nicht richtig. Das Problem sei die Rechtsungleichheit: «Auch ich habe gelitten. Ich bin der Auffassung, dass alle entschädigt werden müssen, auch jene, die es zu etwas gebracht haben. Was sie nachher mit diesem Geld anstellen, ist ihre Sache. Ich würde das Geld Stiftungen geben, die sich für das Thema Fremdplatzierung engagieren.»
Roland Begerts Haltung scheint widersprüchlich, ist aber nachvollziehbar. Das Zeichen der Anerkennung für das Leid, das diesen Kindern zugefügt wurde, soll auch jenen Betroffenen zugute kommen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben.
Noch ist unklar, ob und wie dieser Fonds zu Stande kommt. Die Gesetzesgrundlagen dafür müssen erst noch geschaffen werden – ein Prozess, der mehrere Jahre dauern kann.