Herr Jent, was bewog Sie dazu, diesen Film zu machen?
Meine Arbeit am Forschungscenter für Behinderung und Integration an der Universität St. Gallen macht mir jeden Tag deutlich, wie fern sich die Welten von Nichtbehinderten und Behinderten sind. Das Unwissen sowie das Unverständnis auf beiden Seiten behindern das selbstverständliche Einbeziehen und Nutzen der vielfältigen Behinderungen in das Miteinander in Gesellschaft und Arbeit zusätzlich.
Nach der Wahl zum Vizeschweizer des Jahres 2011 und dem Erscheinen meiner Biographie «Dr. Nils Jent – ein Leben am Limit» von Röbi Koller sahen wir eine grossartige Chance, mit dem Dokumentarfilm eine Brücke zu bauen und diese beiden Welten einander näher zu bringen.
Wir wollten zeigen, dass eine Behinderung nicht das Ende von Allem bedeutet; ja gar aufgrund einer solchen für die Gesellschaft wertvolle Leistungen möglich sind, wenn der Mensch mit Behinderung vom Menschen ohne Behinderung nicht noch zusätzlich eingeschränkt wird und die Motivation ihn trägt.
Sie sind seit dem Unfall in Ihrer Jugend blind und haben den Dokumentarfilm über sich selber nie gesehen. Wie war das für Sie, Hauptfigur in einem Film zu sein, ohne dass Sie die Aufnahmen sehen können?
Dies brauchte einerseits den Aufbau von sehr viel Vertrauen in die Filmemacher Stefan Muggli und Andri Hinnen und andererseits die Abmachung mit der Filmproduktionsgesellschaft «Instantview», Einfluss auf die effektiv publizierten Bilder zu haben. Mit dem Rohfilm habe ich mich zusammen mit den Regisseuren und zwei mir sehr nahestehenden Personen meines Vertrauens eingehend auseinandergesetzt. Dabei liess ich mir die Bilder und Szenen zusätzlich beschreiben.
Es war jedoch ein faszinierender Mehrwert, als ich den Film vor Kurzem das erste Mal in einer Fassung für Sehbehinderte anschauen bzw. anhören konnte. Wichtig war den Filmemachern, alles filmen zu dürfen. Es sollten auch verletzliche Szenen und für mich persönlich schwierige Momente offenbart werden – es geht darum verschiedene Blickwinkel zu zeigen.
Was war denn der schwierigste Moment?
Es gibt zwei Sequenzen, bei denen schlucke ich auch heute noch leer. Die Unterhosenszene auf dem Bürostuhl, bei der ich mich mit den Zehen aufreizend lange und mühsam in die Küche ziehe. Da wird für alle das ganze Ausmass meiner Behinderung schonungslos nackt sichtbar. Für mich gibt’s kein Verstecken mehr, sondern nur noch das mich Stellen.
Die zweite Szene zeigt mich im Spital Flawil in der grössten emotionalen Instabilität meines Lebens. Denn just kurz zuvor erfuhr ich die Diagnose: Verdacht auf Hirntumor. Dieser eine Moment hat sich für immer in mir eingebrannt wie das Datum, 11. September 2001, das die Welt veränderte.
Im Film gibt es viele alte Super 8-Aufnahmen aus ihrer Kindheit, die ihr Vater gemacht hat. Darin erlebt man Sie als jungen, etwas übermütigen Knaben. Welche Bedeutung haben diese Aufnahmen für Sie?
Sie geben dem Dokumentarfilm einen besonderen Spannungsbogen. Für mich haben die Sequenzen zusätzlich eine grosse emotionale Bedeutung: Mein Vater wie meine Mutter haben mein Leben in allen Phasen intensiv begleitet und mitgestaltet – vor wie auch nach dem Unfall. Die Filme sind Zeugnis davon.
In der Tat war ich ein sehr aktiver und lebhafter Junge – davon profitiere ich wohl noch heute. Denn vieles konnte ich in jungen Jahren ausleben, was heute in dieser Art und Weise nicht mehr möglich ist.
Sie haben nach dem Unfall trotz erheblicher Hürden die Matura nachgeholt und studiert und doktoriert. Was war Ihre Motivation?
Ganz einfach – die Motivation lag darin, dass dieser Weg für mich den einzig möglichen Weg darstellte, der überhaupt eine gangbare Perspektive verhiess. Ein Berufsberater empfahl mir, Körbe zu flechten. Handwerkliche Berufe kamen für mich jedoch nicht in Frage, aufgrund meiner wenig brauchbaren Motorik.
Ein Studium bot mir dagegen Raum für Autonomie sowie die Möglichkeit zur Höchstleistung für mein Gehirn. Ich brauchte ein lohnenswertes Ziel. Das Wichtigste für mich ist, die grösstmögliche Unabhängigkeit zu erreichen.
Der Film begleitet Sie in Ihrer beruflichen Tätigkeit am Center for Disability and Integration an der Universität St. Gallen. Worin besteht Ihre Arbeit?
Mit meiner Arbeitspartnerin, Regula Dietsche, wollen wir zusammen mit dem ganzen Team des CDI-HSG aufzeigen, dass die Zusammenarbeit zwischen behinderten und nicht behinderten Mitarbeitenden nicht nur möglich, sondern sich auch wertvoll und zum Nutzen aller gestalten lässt. Achtsamkeit, ein Blickwinkel der Ressourcenorientierung, der Gedanke des Miteinanders sowie Entschleunigung sind auf diesem Weg wichtige Werte.
So sehe ich meinen Beitrag in Forschung und Lehre wie auch in der Praxis vor allem darin, neue Wege anzudenken und umzusetzen. Damit möchte ich die Gesellschaft und die Arbeitswelt auf Menschen mit einer Behinderung sensibilisieren. Dies geschieht am Besten in unmittelbarem Kontakt und in der gezielten Auseinandersetzung von Menschen mit und ohne Behinderung.
Wie fördern Sie diese Auseinandersetzung? Gehen Sie selbst an Schulen, Unis etc. um eben diesen «unmittelbaren Kontakt» herzustellen?
Exakt. Wir haben ganze Lehrprogramme an der Universität St. Gallen sowie in anderen höheren Bildungsstätten. Wir führen Workshops in Kantonsschulen durch bis hinunter zur Primarstufe. Wir halten Referate an Tagungen sowie Kongressen. Wir führen Kaderentwicklungen durch und beraten sowie begleiten von kleinen bis grossen Unternehmungen Diversity- und (Dis)Ability-Konzepte, deren Ziel es ist, durch die Berücksichtigung von Vielfalt und Behinderung einen auch ökonomischen Mehrwert zu schaffen. Unsere aktuellen Hauptthemen sind «Arbeitspartnerschaft als Modell zwischen behinderten und nicht behinderten Mitarbeitenden» sowie die Inklusion von Studierenden mit Behinderung an Universitäten.
Wie hat Ihr Umfeld auf den Film reagiert?
Grundsätzlich habe ich sehr viele positive Feedbacks erhalten. Viele waren berührt, weil sie entweder mein Leben vor dem Unfall oder aber eher nur das Leben nach dem Unfall gut kannten. Beide Leben in dieser Dichte nebeneinander und ineinander verwoben zu erfahren hat viele betroffen gemacht.
Dass der Dokumentarfilm dennoch nicht als «Tränen-Film» gesehen wird, freut mich sehr und ist eine grosse Anerkennung für die Filmemacher. In Feedbacks wurden immer wieder der Lebensmut und die im Film enthaltene Freude erwähnt.
Schön ist vor allem auch, dass der Film bei vielen offenbar das Bewusstsein dafür schärft, dass ein solcher Weg zwar den ungeteilten Willen des Betroffenen und dessen Kraft braucht, es aber definitiv nur im Miteinander mit vielen weiteren Menschen geht. Allen voran sind da meine Eltern zu erwähnen. Dies ist eine meiner wichtigsten Botschaften: Man muss die Kräfte bündeln und zusammenlegen, dann wird möglich, was der oder dem Einzelnen unmöglich scheint.