- Die Briten stimmen bereits zum zweiten Mal über einen Brexit ab, das erste Mal am 5. Juni 1975.
- Befürworter und Gegner interpretieren die gleiche Faktenlage unterschiedlich: für die einen wird der Verbleib in den wirtschaftlichen Ruin führen, für die Gegner wird Grossbritannien erblühen.
- In der abstimmungsentscheidenden Frage geht es um Macht: Souveränität oder Gemeinschaft.
Die Parallelen sind gespenstisch
Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten über einen Verbleib in der EU ab. Premier Cameron hat gerade in einem Live-Interview für den Verbleib geworben, Boris Johnson, der prominente Ex-Bürgermeister von London, plädiert für den Exit. Das passiert nicht zum ersten Mal: Am 3. Juni 1975 war die Diskussion an präzise demselben Punkt.
Zur Erinnerung: Grossbritannien unterzeichnete 1972 den Vertrag für den Beitritt zur EG. Nur 3 Jahre später stimmten die Briten – am 5. Juni 1975 – im ersten Referendum überhaupt, über den Verbleib ab. Was war in nur drei Jahren passiert?
Zahlen und Fakten für die EG-Gegner damals
1970 hatte Grossbritannien einen Exportüberschuss. Bei Unterzeichnung kam das Defizit. Ein Jahr später hatte sich das Defizit verdoppelt, ein weiteres Jahr später hatte es sich erneut verdoppelt. Das britische Pfund wurde seit Beitritt um 25% abgewertet, gegenüber dem Franken um 42%. Die Preise stiegen um 21%. Europa bedeutete für die Gegner: wirtschaftlichen Untergang.
Wem es gut geht, der will in der EG bleiben
Die Rundschau macht damals auf dem Markt von Greenwich Village eine Umfrage: Verbleib – ja oder nein? Die Gefahr bestehe, den ungehinderten Zugang zum Weltmarkt zu verlieren, sagen die, denen es einigermassen gut geht.
In den armen Arbeitervierteln der kränkelnden Automobilwirtschaft hingegen hat man keine Lust auf «den europäischen Kapitalistenclub». Nicht die Schichtzugehörigkeit sondern die wirtschaftliche Situation der Branche, in der jemand beschäftigt ist, bestimmt das Abstimmungsverhalten: Eine Werft, der es gut geht, will in der EG verbleiben, der europäische Markt ist Anreiz genug. Londoner Banker wollen auf keinen Fall auf den Weltmarkt verzichten.
Viel Emotion – wenig Fakten
Eine Umfrage in einem Pub fördert zutage, dass hier «viel Emotion, aber wenig politischer Sachverstand» vorhanden sei, wie der Interviewer zu berichten weiss. Im Vorfeld des Referendums wurden drei Infobroschüren landesweit verteilt, kein Pubgänger hatte sie gelesen.
Das galt gleichermassen für Befürworter wie für Gegner: Einer wollte weiter mit der EG zusammenarbeiten, schliesslich könne man nicht mit einer Hand klatschen. Eine Dame meint, durch die EG werde es für die «Alten» schwerer. Warum, erfährt man nicht. Damals wie heute sind irrationale Ängste ein ernstzunehmender Faktor für das Abstimmungsverhalten.
Souveränität oder Gemeinschaft – das ist hier die Frage
Sendungen zum Thema
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Grosses Gewicht hatte damals ein ganz anderer Punkt. Die Gegenüberstellung von Souveränität und Gemeinschaft. Die Souveränität drohe man zu verlieren, verbleibe man in der EWG. Das Europaparlament ist unbeliebt, dieser Groll wird noch übertroffen durch den gegen die 13 Kommissare in Brüssel, die «pro Jahr bis zu 3000 Verordnungen verabschieden», die von den Mitgliedsländern umgesetzt werden sollen. Das Dazugehören zur EWG wird als Machtverlust gewertet, als permanente Einmischung einer fremden Macht in die innenpolitischen Abläufe. Der Zorn richtet sich gegen den symbolischen «Protzbau in Brüssel».
Die Frage nach Gemeinschaft oder Souveränität kann damals wie heute die Abstimmung entscheiden. Darauf spielt auch Boris Johnsons unsäglicher Vergleich an, in dem er Hitler, Napoleon und die EU in einen Topf wirft. Gemeinschaft oder Souveränität – das ist hier die Frage! Die Befürworter des Brexit befürchten, als ehemalige Weltmacht zur ferngesteuerten Kolonie Brüssels zu werden. Das Stimmvolk entschied sich damals aber für die Gemeinschaft: 67 Prozent sagten Ja zum Verbleib in der EWG.