Der Historiker Fritz Stern hat die Fragilität der Demokratie am eigenen Leibe erfahren. Als zwölfjähriger Junge ist er dem NS-Regime im letzten Moment entronnen. Im New Yorker Exil begann er sein Studium, 1953 wurde seine Dissertation «Kulturpessimismus als politische Gefahr» angenommen. Sie geht der Frage nach, was die Selbstabschaffung der Demokratie in der Weimarer Republik möglich gemacht hatte.
Das Klagen der Kulturpessimisten
Kulturpessimismus meint bei Stern eine an kulturellen Entwicklungen verzweifelnde, modernitätsfeindliche Haltung, die er am Beispiel der «völkischen Kritiker» Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck untersuchte. Diese drei entfremdeten deutschen Intellektuellen waren Antisemiten und Vorläufer des Nationalsozialismus. Ihre Stimmen wurden in der Zeit vor dem dritten Reich in Deutschland prägend.
Sie klagten über einen Verlust an nationaler Identität, kultureller Verwurzelung und spiritueller Verankerung infolge der von Bismarck vorangetriebenen Reichsgründung Deutschlands.
Sendungen zum Thema
Die Spannungen der Zeit
Dabei diagnostizierten alle drei Kulturpessimisten Spannungen, die sie selber nicht auszuhalten vermochten. Abseits jeglicher politischer Realität, getrieben von einer Verzweiflung, die zuerst zu einem Ressentiment und dann zu idealistischem Eifer heranwuchs, appellierten sie an verhängnisvolle Götzen wie die nationale Wiedergeburt und die Verwirklichung des wahren Volkswillens.
Es ist diese Realitätsverweigerung, dieser Sprung vom Nihilismus zum Idealismus, vom Pessimismus zum Populismus, welche nach Stern den Nährboden für die NS-Machtübernahme lieferte. Diese Denker waren gefährlich – nicht weil sie auf die Spannungen und Mängel ihrer Zeit hinwiesen, sondern weil sie selbst nicht den Charakter besassen, sie auszuhalten.
Die Achillesferse liberaler Demokratien
Doch nicht nur das kulturelle Milieu bedrohte die noch zarte Weimarer Demokratie. Die Demokratie ist sich manchmal selbst der grösste Feind. Sie lässt sich mit demokratischen Mitteln abschaffen, und wenn sie ihren liberalen Prinzipien treu bleiben will, kann sie sich nur schwer dagegen wehren.
Als den Nationalsozialisten die Machtergreifung mit legalen Mitteln gelungen war, spottete ihr Propaganda-Minister, Joseph Goebbels: «Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde.»
Stetes Suchen nach Lösungen
Ergebnisoffenheit gehört zu den grössten Stärken einer liberalen Demokratie. Ziel demokratischer Politik ist es eben gerade nicht, die einzig wahre Überlieferung oder Moral umzusetzen, sondern in einem nie endenden Prozess der Äusserung und Bestreitung von Ansprüchen pragmatische Lösungen für ein friedliches Zusammenleben zu finden.
Niemand hat so deutlich für diese Ergebnisoffenheit geworben wie Fritz Stern. Aber wie schon so manche Fussballmannschaft feststellen musste, kann die Stärke schnell zur Schwäche werden, wenn andere sie kennen und sich zunutze machen.
Wie die Stärke nicht zur Schwäche wird
Die Parole des Jakobiners Saint-Just – «Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit» – gilt heute wie damals. Liberalismus heisst, sich für Freiheit und Diskurs zu entscheiden, und Andersdenkende so lange zu tolerieren, wie sie sich an fundamentale Spielregeln halten.
Aber Toleranz kann nicht grenzenlos sein, ohne sich in pures «anything goes» aufzulösen. Die grosse Aufgabe besteht darin, stets von neuem auszuhandeln, wo sich die Grenze der Toleranz befindet. Dass diese Frage nie endgültig beantwortet werden kann, hat Fritz Stern zu Recht nicht davon abgehalten, seine Antwort bei Bedarf zu verteidigen.