Maria Framke, wie wurden Sie zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert?
2003 reiste ich mit dem Rucksack durch Indien. Wenn ich mit Leuten ins Gespräch kam, waren die Reaktionen sehr positiv: «Ah, aus Deutschland, toll! Hitler, der hat doch die Autobahnen gebaut, toll!» Als Geschichtsstudentin fragt man sich schon, warum das so ist.
Was finden die Inder so toll an Hitler?
Ein Grund ist die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten, die aus indischer Sicht verkürzt so aussieht: Deutschland lag nach dem Ersten Weltkrieg in Trümmern, schaffte es aber trotz Reparationszahlungen sich innerhalb von 20 Jahren wieder aufzubauen. Dies wird Hitler zugeschrieben.
Viele Inder fasziniert auch die Idee einer Führungspersönlichkeit, die die Nation eint. Diese Idee war während des indischen Unabhängigkeitskampfes wichtig und ist es auch heute noch.
Ein dritter Grund ist die Aussenpolitik Hitlers. Er führte Krieg gegen die Kolonialmacht Grossbritannien, den Feind Indiens. Damit schwächte er das britische Empire und verhalf Indien, so glauben manche Inder, indirekt zur Unabhängigkeit. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass es viele Menschen in Indien gab und gibt, die Hitler und den Faschismus ablehnen oder sich aktiv antifaschistisch engagieren.
Wieso ist Hitlers «Mein Kampf» in Indien ein Bestseller?
Die Fassungen, die dort zirkulieren, sind oftmals gekürzt. Ich kann das nicht verallgemeinern, aber es scheint, dass manchmal gerade die rassistischen Seiten, in denen Hitler sich auch über das indische Volk abfällig äussert, fehlen.
Indische Wirtschaftsstudenten lesen «Mein Kampf» als eine Art Management-Buch: Wie bringt man ein Land, das am Boden liegt, wieder auf Erfolgskurs? Aber nicht nur in Indien oder Asien ist dieses Buch weit verbreitet, man kann es in vielen Ländern im Internet herunterladen oder bestellen. Zum Beispiel in Amerika. Auch dort gibt es unglaublich hohe Verkaufszahlen.
Irritiert sind viele westliche Indienreisende auch über das Hakenkreuz, das allgegenwärtig ist.
Gerade von europäischer Seite besteht ein grosses Missverständnis, was das Hakenkreuz – die Swastika, wie es in Indien genannt wird – angeht. Im Hinduismus, aber auch im Buddhismus, ist das ein weitverbreitetes Glückssymbol. Neuerer Forschung zufolge tauchte das Symbol das erste Mal vor etwa 15‘000 Jahren auf. Es wurde von den Nazis adaptiert, grafisch prägnant dargestellt und rassistisch umgedeutet.
Wie steht man denn in Indien zum Holocaust, zu den sechs Millionen ermordeten Juden?
Der nationalsozialistische Rassismus und Antisemitismus wurden in den 1930er und 1940er Jahren von vielen Indern nicht positiv gesehen. Juden wurden in Indien nie verfolgt. Eine Erklärung für die geringe Rolle des Holocaust in der indischen Wahrnehmung könnte sein, dass während des Zweiten Weltkriegs in Britisch-Indien Nachrichten zensiert wurden.
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Zudem hatte Indien eigene Probleme: Der Kampf um die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Grossbritannien war besonders in der Endphase von grosser Gewalt begleitet. Die Unabhängigkeit im Jahr 1947, die gleichzeitig auch die Teilung in Indien und Pakistan bedeutete, hatte schätzungsweise 14.5 Millionen Vertriebene zur Folge. Ein Trauma, das bis heute nachwirkt. Davon haben im Westen nur wenige Kenntnis.
Gefährlich scheint die Hitler-Verehrung der nationalistisch-hinduistischen Parteien, die im heutigen Indien das Sagen haben.
Seit der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodya im Jahr 1992 durch fanatische Hindu-Nationalisten gibt es immer wieder Intellektuelle, die darauf hinweisen, welche Gefahren von den Hindu-Nationalisten ausgehen. Sie verweisen auf den Zusammenhang zwischen Hindu-Nationalisten und Faschisten und deren Einfluss auf Indien. Es gibt eine starke öffentliche Debatte darüber.