Der Gezi Park ist zum Symbol geworden. Aber was genau ist geschehen? Der deutsch-türkische Autor Deniz Yücel legt jetzt den Versuch einer Analyse vor: «Taksim ist überall – Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei». Das Buch ist überfällig. Yücel schreibt darin:
«Nach der Polizei kamen die Maler. Die Tränengasschwaden am Taksim-Platz hatten sich noch nicht verzogen, nur wenige hundert Meter weiter und in etlichen anderen Teilen der Stadt tobten noch Strassenkämpfe, als sich Mitarbeiter der Stadtverwaltung daran machten, die Graffitis rund um den Gezi-Park, die vom Witz und dem Esprit der Bewegung zeugten, zu übermalen. Es war die Nacht vom 15. auf den 16. Juni 2013, die Nacht, in der der 14 Tage lang besetzt gehaltene Stadtpark im Herzen von Istanbul von einem Grossaufgebot an Polizei mit Unterstützung der Gendarmerie geräumt wurde. Die Übertünchung der Graffitis hatte oberste Priorität. So, als wollte man sagen: Es ist nichts passiert. Es ist gar nichts passiert. Es ist aber etwas passiert.»
Was genau ist passiert?
Wie kann man umschreiben, was die Türkei im Sommer 2013 einem Erdbeben gleich über mehrere Wochen hinweg regelrecht durchgeschüttelt hat? Mehr als 3,5 Millionen Demonstranten, rund 8000 Verletzte, 8 Tote. Das sind die Zahlen, mit denen man es versuchen kann. Doch Zahlen helfen hier nicht. Sie sagen nichts aus über die Menschen, die damals oft Tag und Nacht auf die Strassen strömten, die sich auch von Wasserwerfern und Tränengasgeschossen der Polizei nicht abschrecken liessen, um ihrem oft über Jahre angestauten Ärger Luft zu machen.
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel hat sich deswegen aufgemacht, die Zahlen mit Gesichtern und Geschichten zu versehen. Sein Buch «Taksim ist Überall» ist ein Streifzug durch die vielen «Taksims» der modernen Türkei – durch eine Gesellschaft, die gespalten und vielfältig ist, wie kaum eine andere. «Was mich interessiert hat», erzählt er bei einem Istanbul-Besuch im Februar, «war zu erzählen, wer diese Leute waren, woher sie gekommen sind, wie sie leben, wie sie leben wollen. Und an welchen Punkten sie einen Widerspruch formulieren, der ja nicht nur um den Park ging und auch nicht nur um die Polizeigewalt.»
Ein Marathon durch die Geschichte
Worum also ging es? Das ist die alles entscheidende Frage, die Yücel den fast 100 Gesprächspartnern stellte, die er für seine Recherchen getroffen hat.
«Taksim ist Überall» ist ein Marathon durch die türkische Geschichte und Gesellschaft. Künstler und Managerinnen kommen darin zu Wort, Kurden und Islamisten, Berufsrevolutionäre und Dönerverkäufer, Transvestiten und Hausfrauen…
Menschen, die charakteristisch sind für bestimmte Stadtviertel, Städte und Milieus – und so in ihrer Gesamtheit ein Porträt der mehr als 3,5 Millionen Gezi-Demonstranten ergeben.
«Was alle eint, ist die Aussage: das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Also erst der Gezi-Park und dann vor allem die Polizeigewalt, das war der letzte Tropfen», erklärt Yücel wenige Tage bevor sein Buch erscheint. «Aber wenn man dann nachfragt: Womit war denn dieses Fass gefüllt? Dann bekommt man von ganz verschiedenen Leuten ganz unterschiedliche Antworten.»
Das hochexplosive Gemisch im Sommer 2013
Was war in dem Fass, welches Gemisch musste sich darin angestaut haben, um im Sommer 2013 beinahe über Nacht derart zu explodieren? Yücel selbst bleibt in «Taksim ist Überall» ein zurückhaltender Autor, Antworten auf solche Fragen gibt nicht er – der zugereiste Autor aus Deutschland. Stattdessen lässt er andere sprechen. So zum Beispiel den 17-jährigen Kurden Mithat, der tagein tagaus mit einer Thermoskanne durch Istanbul zieht und heissen Tee an Passanten und Ladenbesitzer verkauft. Sein Blick auf die Gezi-Proteste, die er als einen «grossen Karneval» in Erinnerung hat, sagt viel über die unterschiedlichen Motive der Demonstranten von damals. Deniz Yücel schreibt in seinem Buch:
«Es heisst ja immer, die oder die hätten den Gezi-Park verteidigt. In Wirklichkeit waren es die Kurden. Die haben ihre puşi umgebunden und sind los.» Puşi ist das kurdische Wort für den bei uns als Palästinensertuch bekannten Schal. Auch Mithat trägt einen puşi. «Manchmal habe ich meine Thermoskannen abgestellt und mitgemacht», sagt er. «Denn mich behandelt dieser Staat als Bürger zweiter Klasse. Für die Europäer sind die Türken die Barbaren, für die Türken sind wir Kurden die Barbaren.»
Gezi ist doch nicht überall
Die Geschichte der Kurden und der türkischen Linken, der armenischen Minderheit, der Transsexuellen und der Fussballfans: All das und noch viel mehr beschreibt Yücel in anschaulicher, oft bildhafter Sprache auf 224 Seiten. Ausgangspunkt ist dabei immer der Taksim-Platz, von dem er sich jedoch immer weiter entfernt, um schliesslich auch in den entlegensten Winkeln der Türkei noch Gezi-Unterstützer aufzusuchen und zu befragen.
Was diesem lesenswerten Buch fehlt, ist die andere Seite: Der Titel «Taksim ist überall» ist irreführend für all jene, die dahinter einen Blick auf die gesamte türkische Gesellschaft erwarten. Denn: Die vielen Millionen Erdogan-Anhänger, die den Gezi-Park nie betreten haben und auch jetzt noch treu und unerschütterlich zu ihrem von Korruptionsvorwürfen geplagten Ministerpräsidenten halten, kommen hier nicht vor. Taksim ist eben doch nicht überall.