Die Erscheinung des digitalen Ich kann man nicht auf eine rein narzisstische Selbstdarstellung reduzieren. Soziale Netzwerke werden genutzt, um der eigenen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Dennoch darf der Faktor der Bestätigung nicht unterschätzt werden.
Der Mensch sucht in allen Beziehungen, seien sie virtuell oder personell, Anerkennung und Beachtung durch sein Gegenüber. Die Menge der (virtuellen) Freunde und Follower wird so zum Mass für Zustimmung und kann in der Folge das eigene Selbstwertgefühl erhöhen.
Permanent nach Besserem streben
Die neuen Medien dienen der Selbstoptimierung. Beispielsweise durch Bildbearbeitung, die alles Ungeliebte retuschiert. Oder durch individuelle, der aktuellen Tagesform angepasste Trainingseinheiten zur Maximierung der Leistungsfähigkeit. Dabei stehen der Einzelne und seine optimalen Möglichkeiten im Mittelpunkt.
Die Individualisierung sei das Leitmotiv des digitalen Zeitalters, heisst es immer häufiger. Der Blick auf die Optimierung bedeutet, nicht mit dem zufrieden zu sein, wie man im Moment ist, sondern permanent nach Besserem streben zu müssen.
Das Netz als Ventil
Vielleicht verstecken sich deshalb viele Menschen hinter der Anonymität des Netzes. Sie ermöglicht unter anderem den Ausdruck von Meinungen und Kritik, den sie im direkten Kontakt nicht offenbaren würden. Wo im Alltag Frust, Enttäuschung und Ärger keinen Ausdruck finden, kann das Netz als Ventil herhalten.
Der Vorteil: Man muss keine Konsequenzen tragen, denn man wird nicht zur Rechenschaft gezogen. Die negativen Auswirkungen sind hinlänglich als Shitstorm und Cyber-Mobbing samt ihrer vernichtenden Folgen bekannt.
Das Bedürfnis nach dem anderen
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Aber auch das genaue Gegenteil wird praktiziert, indem sich jemand als besonders nett und positiv darstellt. Denn gut anzukommen ist auch online wichtig. Wer im Netz nicht gemocht wird, wird wohl auch in Wirklichkeit ein unangenehmer Zeitgenosse sein. Somit stärkt ein hoher Wert des digitalen Ichs das Selbstwertgefühl.
Derzeit nutzen weit über eine Milliarde Menschen soziale Netzwerke, in denen sie miteinander kommunizieren und Kontakte knüpfen. Das Bedürfnis nach dem anderen und seiner Meinung über uns ist zur Identitätsbildung unerlässlich. «Der Mensch wird nur am Du zum Ich», sagte einst der Religionsphilosoph Martin Buber. Im digitalen Zeitalter übernehmen soziale Medien zum Grossteil diese Funktion.