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Gesellschaft & Religion Wenn der Totenzug über die Berge braust

Der Herbststurm ist ein Geisterzug, das Knarren im Gebälk die verstorbene Grossmutter: Bis heute hält sich im Alpenraum der Glaube an «arme Seelen», Totenprozessionen und Irrlichter. Volkskundler Kurt Lussi weiss, warum die Toten vor allem in der Zentralschweiz ihr Unwesen treiben.

Herr Lussi, es gibt Seelen und es gibt «arme Seelen» – was ist der Unterschied?

Kurt Lussi: Wenn ein Mensch stirbt, trennt sich die Seele vom Körper. Solange sie noch nicht definitiv im Jenseits ist, nennt man sie arme Seele. Diese Vorstellung gibt es in fast allen Kulturen und Religionen. In unserer Kultur ist das Verhältnis zu den armen Seelen ambivalent. Einerseits helfen sie uns Lebenden, andererseits fürchten wir sie. So gibt es die Vorstellung, dass man krank wird, wenn man ihnen begegnet oder in einen Zug von armen Seelen gerät.

Ein ganzer Zug? Was heisst das?

Zur Person

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Legende: SRF

Der Luzerner Volkskundler Kurt Lussi (geb. 1956) ist Publizist und Ausstellungsmacher. Sein zentrales Forschungsgebiet sind die magisch-religiösen Vorstellungen im Alpenraum. Er ist Kurator der aktuellen Ausstellung Mysterien des Heilens. Von Voodoo bis Weihwasser im Historischen Museum Luzern.

Ein Zug ist das Heer der namenlosen Toten. In der Zentralschweiz heisst er Türst, in anderen Kantonen spricht man vom Gratzug. Nach vorchristlicher, germanischer Auffassung nehmen Totendämonen die Seelen in Empfang und gliedern sie in den Totenzug ein, der ins Jenseits braust. Von den Lebenden wird er als Sturm wahrgenommen. Wenn in der Zentralschweiz ein heftiger Westwind weht, der an Fensterläden rüttelt und durchs Gebälk pfeift, spricht man daher von der Türst-Jagd. Das ist eine von vielen Manifestationen armer Seelen.

Viele Menschen, die in einen Totenzug geraten, seien kurz darauf selber verstorben, heisst es in Berichten aus Oberwalliser Dörfern. Kann man sich vor so einem Zug schützen?

Damit die Lebenden nicht aus Versehen in den wilden Zug geraten, rennen dem Zug gespenstische Hunde voraus und warnen die Lebenden. Die Wege des Türst sind klar bestimmt. Es sind imaginäre, unsichtbare Wege, aber das Volk weiss genau, wo sie durchgehen. Dort, wo sie öffentliche Wege kreuzen, stehen zum Schutz der Lebenden oft Kreuze. Im Kanton Luzern sind dies doppelbalkige Kreuze, die man Türst- oder Wetterkreuze nennt.

Es gibt also den Zug, der sich als Sturm manifestiert – treten «arme Seelen» auch in anderer Form auf?

Es gibt verschiedene Wahrnehmungen: ein Windstoss, eine eisige Hand oder ein kalter Hauch, der einen von hinten anweht. Arme Seelen nehmen auch menschliche Gestalt an. Sie können als flackerndes Feuer auftreten oder als Irrlichter. Auch seltsame Geräusche in alten Häusern können von einer armen Seele stammen.

Warum sind diese Vorstellungen gerade in der Zentralschweiz so präsent?

Die katholische Zentralschweiz war gegenüber dem Umland lange Zeit ohne viel Kontakt nach aussen, eingeschlossen von den Alpen, den Sprachgrenzen und den reformierten Kantonen Bern und Zürich. Darum haben viele alte Traditionen in der Zentralschweiz überlebt.

Ein Kreuz, das aus drei horizontalen und einem verikalen Balken besteht.
Legende: Steht gemäss Kurt Lussi häufig da, wo sich die Wege der toten Seelen und der Lebenden kreuzen: ein Wetterkreuz. flickt/Georg Wels

Die Sagen und Erzählungen haben sich dort auch erhalten, weil viele Höfe im Entlebuch, im Luzerner Hinterland, in Obwalden und Uri über Jahrhunderte hinweg von der gleichen Familie bewirtschaftet wurden. So wurden die Geschichten, die mit dem Hof verbunden waren, an die nächsten Generationen weitergegeben.

Die meisten Überlieferungen liegen weit zurück?

Die Vorstellung von armen Seelen stammt aus vorchristlicher Zeit. Später haben sich die archaischen Vorstellungen mit dem Christentum vermischt. Es gibt zahlreiche Gegenstände, die dokumentieren, wie sich die Menschen früher vor armen Seelen geschützt haben.

Andererseits entstehen immer wieder neue Geschichten. Man ängstigt sich vielleicht vor Geräuschen auf dem Estrich, dem Knarren und Klopfen, weil man solche Phänomene nicht einordnen kann. Sobald sie in Geschichten gefasst sind, sobald sie ein Gesicht bekommen haben, werden sie fassbar: Es ist vielleicht die arme Seele der verstorbenen Grossmutter oder des Onkels, die sich den Lebenden bemerkbar macht. Dann betet man für sie, zündet vielleicht eine Kerze an. Im Prinzip ist eine Sage nichts anderes als die poetische Umschreibung eines Phänomens, das Menschen nicht gleich einordnen können.

Was halten Sie davon, dass Menschen Kontakte zu Verstorbenen herstellen, vermittelt durch ein sogenanntes Medium?

Voraussetzung für Kontakte ins Jenseits ist natürlich der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod. Ich persönlich kann mir das gut vorstellen.

Halten Sie eine solche Praktiken für unproblematisch?

Ja. Ein Medium ist ein Mensch, der hypersensibel ist. Sie oder er nimmt Dinge wahr, die für andere nicht wahrnehmbar sind. Ich glaube, es braucht eine entsprechende Veranlagung, die man weiterentwickeln muss. Wer aber nicht spirituell ausgerichtet ist, wird das nicht verstehen und wenig davon halten. Allerdings ist die Gefahr da, dass jemand den Glauben an die Existenz von Ahnengeistern bzw. arme Seelen mit unseriösen Praktiken missbraucht.

Haben wir es heutzutage einfach verlernt, die Toten zu verabschieden?

In unserer entspiritualisierten Welt ist das ein Problem. Wir beerdigen unsere Toten, dann vergessen wir sie. Während meiner Studienreisen habe ich viele Völker mit einer starken Ahnenkultur kennengelernt. In diesem Sinn plädiere ich für den Respekt gegenüber unseren Vorfahren.

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