Frau Frattaroli, Sie machen als Vertreterin einer bedeutenden internationalen Kinderrechtsorganisation in den letzten Monaten vermehrt darauf aufmerksam, dass Kinder und Jugendliche besonders gefährdet sind, die allein auf der Flucht sind. Welchen Gefahren sind sie ausgesetzt?
In Südosteuropa sind uns viele Fälle bekannt, bei denen Kinder Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Dies hängt damit zusammen, dass in dieser Region vor noch nicht langer Zeit Krieg geherrscht hat und Netzwerke für das illegale Geschäft mit Menschen reaktiviert wurden.
Wie gross ist das Ausmass von Menschenhandel, vom dem Kinder und Jugendliche in Europa betroffen sind? Gibt es dazu Zahlen?
Aus den Kriminalstatistiken der europäischen Länder geht hervor, dass es sich um Tausende von Fällen handelt. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Denn es gibt viele Betroffene, die gar nie in einer Statistik erscheinen. Das illegale Geschäft findet ja auch weitgehend im Dunkeln statt.
Allein unter den Tausenden von registrierten Flüchtlingen entfällt ein beträchtlicher Anteil auf Kinder und Jugendliche. Wie gross dieser Anteil ist, können wir nicht mit einer genauen Zahl ausdrücken. Aber klar ist, es sind keine Einzelfälle.
Wo ist die Gefahr für Minderjährige am grössten, Opfer von Menschenhändlern zu werden?
Die Gefahr ist dort gross, wo sich unbegleitete Kinder und Jugendliche ausserhalb von betreuten Flüchtlingseinrichtungen bewegen. Zum Beispiel, wenn sie an einer Grenze abgewiesen werden und dorthin zurückreisen sollen, wo sie hergekommen sind. Die wenigsten wollen und können zurück. Dann springen Transporteure in die Lücke, die ihnen versprechen, sie übers Meer oder bei Nacht und Nebel in einem Auto schwarz über die Grenze zu bringen.
Kinderhandel findet vor allem in informellen Camps statt, die von keiner Behörde oder Organisation kontrolliert werden. Diese entstehen etwa als illegale Zeltlager vor den offiziellen Durchgangszentren, wenn diese überfüllt sind.
Wie lässt sich für Grenzbeamte oder Betreuerinnen in Durchgangszentren und Asylheimen erkennen, ob Kinder gefährdet oder bereits Opfer von Menschenhandel geworden sind?
Dies lässt sich etwa erkennen, wenn ein Kind erzählt, dass es von seinem grossen Bruder oder Onkel begleitet werde, aus dem Verhalten dieser Person aber hervorgeht, dass sie das Kind gar nicht kennt. Auch wenn ein Kind stark fremdbestimmt ist, wenn es um die Frage geht, wann es wohin weiterreist, kann dies ein Hinweis sein.
Oder da sind Jugendliche, die uns erzählen, dass sie unterwegs gefangen gehalten worden seien und wochen- oder monatelang für irgendwen hätten arbeiten müssen, bevor sie hätten weiterziehen können. Sie haben dabei auch erfahren, dass diese Weiterreise immer wieder versprochen, aber zugleich hinausgeschoben wurde.
Was lässt sich dagegen tun?
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Zöllner können darauf achten, dass sie beim Grenzübertritt Flüchtlingsfamilien nicht auseinanderreissen. Denn dies führt dazu, dass noch mehr Minderjährige plötzlich auf sich allein gestellt sind und sich in einer dramatischen Lage befinden. Grenzbeamte können geschult werden, damit sie Opfer von Menschenhandel besser erkennen. Betreuerinnen sollten in den Durchgangszentren Räume haben, in denen sie in Ruhe mit Kindern und Jugendlichen reden und auf sie eingehen können. Darüber hinaus wäre eine internationale Zusammenarbeit nötig, um gegen diesen Missstand vorzugehen.