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Zwei Frauen gehen an einer «Peace for Paris»-Flagge vorbei.
Legende: Eine Stadt steht unter Schock – die Welt leidet mit: Paris, drei Tage nach den Bombenanschlägen. Keystone

Gesellschaft & Religion Wie weiter nach den Bomben von Paris? Kein Streitgespräch

Der IS schlägt brutal in Paris zu – Frankreich wirft Bomben auf Syrien. Ist das richtig? Was kann Europa im Kampf gegen den Terror tun? Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, die Europa-Expertin Jacqueline Hénard und Nahost-Kenner Michael Lüders diskutieren.

«War on Terror» – jetzt auf Französisch: Zwei Tage nach den brutalen Bombenanschlägen in Paris lässt Frankreichs Präsident François Hollande die syrische IS-Hochburg Rakka bombardieren. Das ist ein grosser Fehler, sagt Nahost-Experte Michael Lüders, und ein Schritt in die falsche Richtung.

Denn: Der IS will, dass der Westen militärisch eingreift, dass er lieber heute als morgen auch Bodentruppen nach Syrien fliegt. Weil die IS-Führung weiss, wie man einen Guerilla-Krieg führt, und weil sie glaubt, ihn gewinnen zu können.

Aktivismus und Populismus

Lüders hätte lieber ein Frankreich gesehen, das nicht wie das Bush-Amerika nach 9/11 reagiert. Sondern wie Norwegen nach dem Amoklauf des rechtsextremen Islamhassers Anders Breivik, der vor vier Jahren 77 Menschen tötete.

Mehr Besonnenheit, fordert Lüders: «Bomben schaffen Märtyrer und eine Situation des vermeintlich heldenhaften Widerstandes gegen westliche Aggression.» Lüders sieht im heutigen Europa viel Aktivismus und Populismus. Aber zu wenig politisches Personal, das mit «Besonnenheit und Klugheit» handle.

Ohne kulturelle Bindung

Assad ist weiter an der Macht, ein zerstörtes Land längst Heimat und Ausbildungsstätte der IS-Terrormiliz: Hätte Europa die katastrophale Lage in Syrien nicht voraussehen, vielleicht gar verhindern können? Nein, sagt die Europa-Expertin Jacqueline Hénard. Von Damaskus und Aleppo sei man in Paris oder Berlin zu weit weg. Vor allem im Kopf.

«Der arabische Raum ist eine junge Welt – Europa eine alte. Es ist ein Nachdenken einer älteren Generation über eine Jugend-Generation, zu der sie keine kulturellen Bindungen hat. Deren Lebensumfeld sie nicht kennt. Ich weiss nicht, wer sich in Europa mit diesem Raum produktiv auseinandersetzen könnte.»

Arabisches Banlieue-Gefühl

Ähnlich pessimistisch denkt der Islam-Wissenschaftler Reinhard Schulze: Man müsse sich viele Teile der arabischen Welt als eine grosse Banlieue vorstellen. «Das sind Ordnungen, in denen die Menschen kaum noch einen Sinn in der Gesellschaft erkennen. Weil nicht existiert, was Menschen von einer Gesellschaft erwarten. Stattdessen entstehen völlig neue Formen von Solidaritätsbezügen, die mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben.» Es werde zur grossen Aufgabe des Westens, den arabischen Staaten genau dieses Banlieu-Gefühl zu nehmen.

Jacqueline Hénard geben Leute wie der Präsdient des Europäischen Parlaments Martin Schulz zu denken. Der deutsche EU-Politiker hat am Wochenende verlauten lassen, Terror gehöre zu den Lebensrisiken des 21. Jahrhunderts. Resignation kann für die Europa-Expertin kein Mittel sein, um den Gefahren der gesellschaftlichen Radikalisierungen zu begegnen.

Bloss keine Hysterie

Michael Lüders warnt vor der Gefahr einer «Hysterisierung». In Polen schreckt die neue, rechte Regierung mit der Ansage auf, man werde nun doch keine syrischen Flüchtlinge aufnehmen. Europa muss jetzt beweisen, dass es keine «Schönwetterwertegemeinschaft» sei, sagt Lüders.

Die vom IS gewollte politische Radikalisierung Europas: Auch für Rainhard Schulze ist sie kaum mehr aufzuhalten. Wichtig sei, dass der Westen sich nicht länger als Geisel des Terrors sehe: «Wir müssen uns aus dem Denkschema befreien, dass wir Opfer sind. Wir müssen den Sumpf trockenlegen, in dem sich der Terror auch in der EU entwickelt.»

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