«Gott ist gross.» Das ist einer der ersten Sätze, den ein muslimisches Neugeborenes hört. Üblicherweise flüstert der Vater dem Kind unmittelbar nach der Geburt den Gebetsruf viermal ins rechte und das islamische Glaubensbekenntnis ins linke Ohr. Danach erweicht ein Erwachsener eine Dattel und reibt damit den Gaumen des Babys ein.
Auch der Hinduismus kennt Geburtszeremonien, bei denen der Vater dem Kind den Gottesnamen zuwispert. Beim hinduistischen Brauch Jatakarma zeichnet er zuvor mit Honig das Zeichen «OM» auf die Zunge des Neugeborenen. Die Eltern heissen mit diesen Ritualen ihren Nachwuchs in der Welt willkommen und erhoffen sich damit, ihn vor Unheil zu schützen.
Den guten Charakter einlöffeln
Im Hinduismus wie im Islam gibt es unzählige Riten rund um die Geburt. Nicht alle Muslime zerkauen eine Dattel. Nicht alle Hindus vollziehen Jatakarma. Die Praktiken unterscheiden sich regional und je nach Glaubensrichtung. Aus dem Versuch, die positiven Eigenschaften des Islams und des Hinduismus miteinander zu verbinden, entstand im 16. Jahrhundert die religiöse Bewegung des Sikhismus. Zu dieser bekennt sich die 32-jährige Kaur, die vor fünf Jahren von Indien in die Schweiz umsiedelte.
Vor zwei Monaten gebar sie ihr erstes Kind, Gurprit. Einige Geburtszeremonien aus dem Sikhismus hat die junge Familie durchgeführt. «Die Schweiz ist nicht Indien. Deshalb zelebrieren wir nicht alle Rituale für das Neugeborene», sagt Kaur. Der Sikhismus glaubt an die Wiedergeburt, wobei Menschsein als die höchste Stufe zählt.
Um das junge Leben vor dem Bösen zu beschützen, bleiben in Indien die Babys die ersten 40 Tage im Haus. In der Schweiz sei das unmöglich: «Bereits nach zehn Tagen verliess ich mit meinem Sohn die Wohnung. Wir hatten einen Termin beim Kinderarzt», sagt Kaur.
Zu Hause hat Gurprits Grossmutter ihrem Enkel mit einem Silberlöffel Milch eingeflösst. Die Tradition erzählt, dass dem Kind so die guten Charakterzüge der fütternden Person eingelöffelt werden. «Wir hoffen, dass Gurprit die Fröhlichkeit und Weisheit meiner Schwiegermutter übernehmen wird», sagt Kaur. Ebenso soll ihn der am ersten Tag umgelegte Stahlarmreifen (Karma) auf seinem Weg begleiten.
Ein Sikh trägt sein Leben lang einen solchen Reifen am rechten Handgelenk, damit er sich stets an die Verpflichtung zur Wahrheit erinnert. Schmuck dient also nicht nur als reine Zierde.
Er soll das Kind dazu ermutigen, sich gewisse Fähigkeiten anzueignen. In anderen Ländern, wie etwa im Jemen oder in Afrika, soll Schmuck das Herz des Babys vor bösen Geistern schützen.
Religion oder Aberglaube
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Frischgebackene Eltern beschäftigen sich überall mit den gleichen Gedanken: Wie können wir unser Kind in seiner gesunden Entwicklung unterstützen? Wie sollen wir es vor der bedrohlichen Welt beschützen? Riten rund um die Geburt übernehmen auch eine gewisse Schutzfunktionen. Sie sollen das Baby vor Unheil bewahren und seine Entwicklung fördern.
Die dafür gepflegten Rituale sind oft eine Vermischung aus religiösen Praktiken, alten kulturellen Traditionen und Aberglauben. Deshalb ist es schwierig, zwischen religiösen Handlungen und solchen, die im Aberglauben ihren Ursprung haben, zu unterscheiden.
So verschieden die Zeremonien im Hinduismus, im Islam, im Sikhismus, in fremden Ländern oder in der Schweiz sind, die Eltern haben alle eines gemeinsam: die Liebe und die Fürsorge für ihren Nachwuchs.