Neulich ist es wieder passiert, in einem dieser unpersönlichen Grossraumbüros. Nebenan tippt einer konzentriert an seinem Text. Um die unpersönliche Atmosphäre etwas persönlicher zu machen, stelle mich vor: «Hallo, ich bin Reena!»
Er schaut auf, sagt, dass wir uns bereits kennen und tippt weiter. Es ist mir so peinlich, ich würde mich am liebsten wegbeamen. Wieder einmal konnte ich mir ein Gesicht nicht merken.
Gesichter am falschen Ort
Ein paar Tage später schlendere ich mit Luiza Da Silva durch Winterthur. Sie ist hier zu Hause und kennt viele Leute. Was nicht heisst, dass Luiza sie auch erkennt.
Eine Frau winkt uns nett zu. «Kennst du sie?», möchte ich wissen. «Ja», erklärt Luiza, «aber nur, weil sie vor ihrem Geschäft steht. Hätten wir sie an einem anderen Ort angetroffen, hätte ich sie wahrscheinlich nicht erkannt». Luiza Da Silva hat noch mehr Mühe, Gesichter zu erkennen, als ich.
Vor allem bei flüchtigen Bekanntschaften oder wenn der Kontext fehlt, wird es schwierig. Ich habe vor Jahren den Koch der Studiokantine nicht sofort erkannt, weil er nicht in der Schürze, sondern in Baggy Pants und Baseball-Cap vor mir stand.
«Aber es hilft nicht!»
Menschen nicht zu erkennen, ist unangenehm. Es wirkt arrogant und unaufmerksam. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Luiza oder ich sein wollen. Luiza Da Silva gibt sich alle Mühe, etwas dagegen zu tun: «Ich bin aufmerksam, höre gut zu und probiere, mir das Gesicht zu merken, aber es hilft nicht!»
Wir sind Experten für Gesichter, die wir kennen. Unbekannte Gesichter auseinanderzuhalten, ist schwierig.
Seit Luiza Da Silva in einem Artikel zum ersten Mal von Prosopagnosie, oder einfacher ausgedrückt von Gesichtsblindheit, gelesen hat, hat sie endlich ein Wort für ihre Eigenheit. «Ich leide nicht darunter», erklärt die 65-Jährige, «aber ich würde gerne mehr darüber wissen». Mir geht es gleich.
Sich selbst nicht erkennen
Ein paar Tage später treffe ich eine der führenden Forscherinnen in Sachen Gesichtserkennung zum Interview: Meike Ramon von der Universität Lausanne.
Streng genommen dürften sich nur die Menschen als gesichtsblind bezeichnen, die eine Schädigung oder Verletzung am Gehirn haben. Eine Verletzung beeinträchtigt das Netzwerk im Hirn, das für die Erkennung von Gesichtern zuständig ist, erklärt Meike Ramon.
Leute ohne eine Gehirnschädigung, wie Luiza Da Silva oder ich, müssten auch Mühe haben, andere Dinge wiederzuerkennen – Stühle etwa oder Taschen. Dabei gehe es wie bei anderen unterschiedlich ausgeprägten Begabungen um eine natürlich vorkommende Variation.
Die Fremde im Spiegelbild
Was sehen Menschen, die eine diagnostizierte Gesichtsblindheit haben, wenn sie ein Gesicht anschauen? «Eigentlich ist der Begriff gesichtsblind blöd. Es ist ja nicht so, dass sie durch die Welt laufen und kopflose Personen sehen», sagt Meike Ramon. Aber für Menschen mit Prosopagnosie ähneln sich Gesichter.
Also suchen sie Gesichter nach Merkmalen ab, um sie zu erkennen. Dieser Prozess sei langsam, da Merkmal für Merkmal abgesucht werde. Ausserdem sei dieser Prozess anfällig für Fehler. Denn auffällige Merkmale wie ein Piercing oder eine Frisur lassen sich verändern oder entfernen.
Um die Gesichtsblindheit aufgrund einer Hirnverletzung besser zu verstehen, erzählt Meike Ramon von einem Erlebnis, das eine Patientin gemacht hat. Die Frau war unterwegs in einer fremden Stadt, schlenderte durch die Strassen und betrachtete die Schaufenster.
Plötzlich wurde sie stutzig, weil sie von einer Frau im Schaufenster angeglotzt wurde: «Sie dachte: Was starrt mich diese Frau so an, das ist ja dreist! Dann hat sie gemerkt, dass diese Frau ähnliche Ohrringe trägt wie sie.»
Erst nach und nach habe die Patientin gemerkt, dass sie sich selbst in einem verspiegelten Schaufenster sieht. Die Patientin hatte sich zuerst selbst nicht erkannt.
Evolutionär betrachtet ist es wahrscheinlich ein Novum, dass wir so vielen Gesichtern ausgesetzt sind.
Viele wissenschaftliche Studien begännen mit dem Satz, Menschen seien Experten für Gesichter, sagt die Forscherin Meike Ramon und widerspricht im selben Atemzug: «Wir sind Experten für Gesichter, die wir kennen. Unbekannte Gesichter auseinanderzuhalten, ist schwierig.»
Das trifft auch auf mich zu: Im Familienalbum erkenne ich jedes Gesicht. Vom schlecht belichteten Foto der Urgrossmutter, bis zur Cousine, deren Gesicht von Sonnenbrille und Strohhut fast ganz verdeckt ist.
Von Gesichtsblinden zu Super Recognizern
Weltweit sollen ein bis zwei Prozent der Menschen gesichtsblind sein. Meike Ramon hält aber nichts von solchen Zahlen, weil es keine verlässlichen Auswertungen gebe.
Mit Sicherheit sagen lässt sich aber, dass wir uns auf einem Spektrum bewegen. An einem Ende sind die Menschen mit Prosopagnosie, die je nach Situation sogar Mühe haben, sich selbst zu erkennen. Wer davon betroffen ist, lernt damit zu leben, denn heilen lässt sich Gesichtsblindheit nicht.
Weit davon entfernt tauchen in diesem Spektrum Menschen wie Luiza oder ich auf. Menschen, die Mühe haben, Gesichter wiederzuerkennen. Vor allem bei flüchtigen Bekanntschaften oder wenn der Kontext ungewohnt ist.
Dann gibt es Menschen, die sehr gut Gesichter erkennen. Luiza Da Silva erzählt mir von einem Bekannten, der das Gegenteil sei von ihr: «Ich bin fasziniert von seiner Fähigkeit, Menschen wiederzuerkennen. Leute, die er nur einziges Mal gesehen hat, erkennt er Wochen später wieder.»
Damit gehört er wohl zum anderen Ende des Spektrums, zu den sogenannten Super Recognizern: Menschen, die besser Gesichter erkennen als ein Computerprogramm. Bei der Stadtpolizei Winterthur ist ein solcher Super Recognizer als Fahnder tätig.
Ein Leben mit vielen Gesichtern
Zu Beginn der Recherche wollte ich wissen, warum es für manche Menschen so schwierig ist, Gesichter zu erkennen. Je länger ich darüber nachdenke, stellt sich eine ganz andere Frage: Wie viele Menschen und ihre dazugehörigen Gesichter haben überhaupt Platz in einem Leben?
Oder anders gefragt: Ist es vielleicht normal, dass ich mir all die vielen Gesichter, die mir täglich in echt und als Selfie am Bildschirm begegnen, nicht merken kann?
Ich sage, dass es sein kann, dass ich sie beim nächsten Mal nicht sofort erkenne.
Ich denke an unsere Ur-Ur-Urahnen, die mit dem Faustkeil ums Lagerfeuer sassen und es in vielen Dingen sicher viel schwieriger hatten als der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts. Aber sie begegneten weniger Menschen und ihren Gesichtern.
«Evolutionär betrachtet ist es wahrscheinlich ein Novum, dass wir so vielen Gesichtern und Bildern von Gesichtern ausgesetzt sind», meint Forscherin Meike Ramon. «Vielleicht haben wir eine unglaublich hohe Erwartung an unser Gehirn.»
Strategien fürs Wiedersehen
Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Gesichter erkennen – das zu wissen, tue gut, findet Luiza Da Silva. Sie hat eine Methode, um unangenehmen Wiedersehen zu vermeiden – sie sage den Leuten, dass sie Mühe habe, Gesichter zu erkennen: «Ich sage, dass es sein kann, dass ich sie beim nächsten Mal nicht sofort erkenne.»
Wie reagieren die Leute auf diese Ankündigung? «Ich habe lustigerweise schon erlebt, dass jemand sagt: Das kenne ich auch!»