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Gewalt in der Bibel Wie brutal ist die Bibel wirklich?

In der Bibel gibt es Gewalt zuhauf. Aber sie wird meist totgeschwiegen. Jetzt entschlüsseln Forschende die heiklen Texte neu.

Eigentlich wollte Gabriella Gelardini über Identität im Neuen Testament forschen. Dann stolperte sie über etwas, das sie nicht mehr losliess: geheime Botschaften im Markus-Evangelium.

Sie haben Tausende von Wörtern untersucht, sagt die Professorin für das Neue Testament und die biblische Passagen mit anderen antiken Texten verglichen.

Der Clou: In den theologischen Fach-Wörterbüchern waren viele brisante Bedeutungen der griechischen Wörter – das Neue Testament wurde auf Griechisch verfasst – gar nicht aufgelistet.

«Zum Beispiel steht dort für ‹Dynamis› nur die Bedeutung ‹Kraft› oder ‹Macht›», so die Professorin. «Kein Wort darüber, dass das auch Heer bedeuten kann.»

Jesus als Heerführer?

Ihre These ist: Das Markus-Evangelium porträtiert Jesus als Anwärter militärischer Macht. Geschrieben für die christusgläubigen Jüdinnen und Juden, die um 70 nach Christus in einen Krieg mit den Römern verwickelt waren und verfolgt wurden.

Zu der Zeit sei das Evangelium entstanden. Als Ermutigung zum Widerstand gegen Unterdrückung. Allerdings verklausuliert.

Die Schweizer Professorin, die zurzeit in Norwegen an der Universität Bude arbeitet, veröffentlichte dazu das Buch «Christus Militans». Aus heutiger Perspektive klingen die Texte der Bibel religiös.

Doch Politik, Kultur und Religion seien damals in der Antike eng miteinander verwoben, betont Gelardini. Nur im Kontext könnten wir sie richtig verstehen.

Texte vor Missbrauch schützen

Das ist der Neutestamentlerin ein grosses Anliegen. Denn bis heute werden biblische Texte immer wieder missbraucht, um Kriege und Gewalt religiös zu rechtfertigen.

«Gefährlich können Texte dann werden, wenn sie nicht als Literatur gelesen werden», sagt Helge Bezold. Auch er forscht zu Gewalt in der Bibel. Seine Promotion an der Universität Basel ist Teil des Projekts «Transforming Memories of Collective Violence» , gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds.

Schöne Königin, verschwiegene Gewalt

Im Buch Ester wendet die mutige und schöne Königin den Massenmord an den Judäern ab. Bevor diese aus Dankbarkeit das Purimfest feiern, metzeln sie in der Erzählung 75'000 Menschen nieder. Diese Gewalt wirft Fragen auf.

Solche erklärungswürdigen Passagen werden in der christlichen Überlieferung gerne unter den Tisch gekehrt. «Wie kann ein biblisches Buch so brutal sein? Wofür wurde es geschrieben?», fragte sich Helge Bezold – und machte diese kurze Geschichte zum Gegenstand seiner Forschung.

«Nehmt Gewalt ernst!»

Helge Bezold ist der Meinung, die Geschichte stelle ein gedankliches Ausloten von Möglichkeiten dar. Als kleines Volk, das ständig von Grossmächten unterdrückt wurde, hatten die Judäer keine echte Chance auf militärische Siege. Literarisch aber ist bekanntlich alles möglich.

So versteht er auch andere Texte, in denen die Israeliten mit Gottes Hilfe wundersam die übermächtigen Gegner besiegen. Als Diskussion des Themas. Geschrieben von Menschen, die mit realer Gewalt und heftiger Unterdrückung konfrontiert wurden.

Neben Rachefantasien drücken viele Texte auch tiefe Trauer und Traumata aus, etwa das Buch der Klagelieder. Welche Erzählstrukturen waren besonders wirksam, um kollektiv erlittenes Leid zu bewältigen? Solchen Fragen gehen die Forschenden des interdisziplinären SNF-Projekts unter anderem nach.

Unter dem Strich, so der Bibelwissenschaftler Helge Bezold, sage die Bibel zu diesem Thema: «Nehmt Gewalt ernst! Setzt euch mit ihr auseinander.» Schliesslich gehöre Gewalt – leider – zum Menschsein dazu.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 25.10.2020, 08:30 Uhr

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