Erst kürzlich hatte er wieder einen Einsatz im Spital. Die Familie eines schwerkranken Patienten hatte den Zürcher Seelsorger Abduselam Halilovic gebeten, aus dem Koran zu rezitieren. «Sowas mache ich gerne», so der 31-Jährige. «Ich stelle fest, dass es den Leuten danach besser geht.»
Für Musliminnen und Muslime können solche Koranrezitation wichtig sein, «weil sie damit emotional starke und positiven Erinnerungen verbinden», erklärt der stellvertretende Geschäftsführer der muslimischen Seelsorge Zürich (QuaMS). «Zum Beispiel erinnern sie sich an ihre Grossmutter, die in ihrer Kindheit Tee kochte und aus dem Koran rezitierte, wenn jemand krank war.»
Kein Therapieersatz
Es gibt verschiedene Varianten, aus dem Koran zu rezitieren: gegenüber den Patientinnen und Patienten sitzend, allenfalls mit Handauflegen auf jene Körperstelle, die schmerzt. Oder über Wasser bzw. Öl, das dann getrunken wird.
Eine Therapie sei das aber nicht, betont der Islamwissenschaftler Abduselam Halilovic: «Das finde ich heikel, gerade im Gesundheitskontext. Mir ist es wichtig, die medizinische Ebene von den seelsorglichen, spirituellen Ebenen zu unterscheiden.»
Das vermittle er auch den Kranken. Zudem fänden solche Rituale immer in Absprache mit dem Pflegepersonal statt. Ein interprofessioneller Zugang ist dem Seelsorger wichtig.
Mit Gerste gegen Traurigkeit
Dass sich Religion und spirituelle Praktiken positiv auf kranke Menschen auswirken können, etwa weil sie Trost und Kraft spenden oder Vertrauen schaffen, zeigen wissenschaftliche Studien. Solch einen Effekt erzielen wohl auch Koranrezitationen. Je nach Auffassung gehören sie zur sogenannten prophetischen Medizin.
Diese entstand im ersten Jahrhundert des Islams und geht auf Überlieferungen des Propheten Mohammeds zurück. Im Mittelpunkt des komplementären Ansatzes stehen Lebens- und Heilmittel, denen eine bestimmte Wirkung nachgesagt wird.
Mit Blick auf den Entstehungskontext der prophetischen Medizin wird klar, dass solche Lebensmittel oft das Einzige waren, was kranke Leute zur Hand hatten. Pflanzliche Medikamente wirken nur gering, chirurgische Eingriffe waren kaum möglich.
Deshalb war es wichtig, mit guter Ernährung, frischer Luft oder genügend Bewegung gesund zu bleiben. In den Überlieferungen des Propheten kommt Sport oder genügend Ruhe denn auch als Präventionsmethode vor.
Umstrittene Talismane
Kritisch wird es für Halilovic, wenn Wunderglaube ins Spiel kommt. Etwa, wenn sich jemand bei Krebs ausschliesslich von Schwarzkümmelöl oder Koranrezitationen Heilung verspricht: «Im Gespräch versuche ich, darauf einzugehen, die Hoffnung der Kranken nicht zu nehmen. Aber ich möchte auch die Verbindung schaffen zu modernen Methoden der Medizin», betont der Seelsorger.
So sieht Halilovic auch das Tragen von Talismanen kritisch. Sie gehören nicht zur prophetischen Medizin, seien aber verbreitet: «Das kann ein Miniaturkoran sein oder bestimmte Suren, die auf einem Zettel aufgeschrieben und gefaltet in einem Beutel um den Hals getragen werden. Oder auch Zahlenkombinationen mit einer bestimmten Bedeutung», erzählt der Islamwissenschaftler.
Das finde er heikel, weil es schnell in Vorstellungen von Magie oder Arbeit mit Dämonen kippen könne. Diese Grenzen zeige er als Seelsorger jedoch auch auf.