- Orientalistik-Studierende der University of London wollen «weisse Philosophen» wie Kant, Aristoteles oder Descartes nur noch dann studieren, wenn es absolut nötig ist.
- Der Fokus im Studium soll stärker als bisher auf afrikanischen und asiatischen Denkern liegen.
- Die radikale Forderung schlägt in den britischen Medien hohe Wellen. Die Fachwelt reagiert mit Hohn und Spott.
- Das Problem der Forderungen sei ihre Absolutheit, meint SRF-Grossbritannien-Korrespondent Martin Alioth.
SRF: Weniger westlich-europäische – mehr afrikanische und asiatische Denker: Die Studierenden des Instituts für orientalische und afrikanische Studien an der University of London wollen den Lehrplan umkrempeln. Was fordern sie konkret?
Martin Alioth: Sie möchten, dass sich das Institut für afrikanische und orientalische Studien zum 100. Geburtstag mit seiner eigenen Rolle bei der Entwicklung und Rechtfertigung des britischen Kolonialismus beschäftigt.
Konkret, sagen die Studenten, sollte die Mehrheit der studierten Philosophen aus Afrika und Asien stammen. «Weisse Philosophen» sollen nur wenn nötig studiert werden. Und wenn, dann immer in ihrem gesellschaftlichen und kolonialen Kontext.
Damit stellen die Studenten den bisherigen Lehrplan gehörig in Frage. Wie reagieren die Professoren darauf?
Sie stellen sich weitgehend dagegen, reagieren mit Spott und Verachtung. Der Philosoph Roger Scruton bezichtigte die Studenten der Ignoranz und meinte, er könne sich nicht vorstellen, was Immanuel Kants «Kritik der reinen Vernunft» mit Kolonialismus zu tun habe.
Andere weisen darauf hin, dass man etwa die arabischen und jüdischen Philosophen in Südspanien im 12. Jahrhundert unmöglich würdigen könne, ohne Aristoteles studiert zu haben. Dass also Leute wie Averroës oder Maimonides auf den Schultern der griechischen antiken Philosophie stehen, sie ausbauen und – ihr wohl grösstes Verdienst – für das damals eher etwas kulturlose Westeuropa überhaupt zugänglich machen.
Steht dieser akademische Sturm im Wasserglas für sich – oder fügt er sich in einen Trend ein?
Man kann durchaus einen Trend erkennen. Denken Sie an die letztjährige Kampagne in Oxford, wonach eine Statue des Oberimperialisten Cecil Rhodes von der Fassade von Oriel College entfernt werden sollte, das übrigens einst von einer grossen Schenkung von Rhodes profitiert hatte.
Die Statue blieb schliesslich stehen. Aber den Aktivisten geht es letztlich darum, weniger appetitliche Aspekte namentlich der britischen Geschichte schlicht und einfach zu entfernen. Sie wollen sie ungeschehen zu machen, statt sie in ihren Kontext zu stellen.
Und das hat System. Britische Studentenschaften neigen derzeit zu einer Art von Selbstzensur. So weigerte sich die nationale Studentenschaft im Dezember, den IS zu verurteilen, weil das als Islamophobie gewertet werden könnte. Das geht alles sehr weit.
Es gibt auch einen neuen Ausdruck im Englischen: «Deplatforming». Also jemanden, der einem nicht in den Kram passt, von einem Podium zu entfernen. Das bildet die Geisteshaltung ab.
Darf man denn die Forderungen dieser Orientalistik-Studenten wirklich in diesen extremen Topf werfen, oder ist das einfach überzogene «Political Correctness»?
Es gehört nicht wirklich in dieses extremistischen Topf. Denn es gibt im britischen Establishment immer noch eine weit verbreitete Neigung, den Kolonialismus als harmlos oder gar als Segnung der Zivilisation zu betrachten. Da ist Kontext, Kritik und Selbstkritik immer zu begrüssen.
Das Problem ist die Absolutheit der Forderungen. Wenn der Orientalismus eine einseitige, von westlichen Perspektiven geprägte Sicht auf den Osten ist, wie das Edward Said fast als eigene Disziplin etabliert hat, dann ist das, was wir hier sehen, die Rache: die Säuberung westlichen Kulturgutes aufgrund einer orientalischen Voreingenommenheit.
Das Gespräch führte Katrin Becker.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 13.1.2017, 17:05 Uhr