«Habermas ist ein widersprüchlicher Denker, der einerseits auf vernünftige Verständigung pocht und andererseits richtig austeilen kann», meint Philipp Felsch, Kulturwissenschaftler und Habermas-Biograf. Dass Argumente nur rational und massvoll vorgetragen werden dürfen, wie Habermas es predigt – so hat er selbst oft nicht gehandelt.
Aber damit lebt er vor, was seine Theorie fordert: Eine lebendige, öffentliche Debatte. Denn ob Kriegseinsätze, Bioethik oder Europapolitik: Habermas nimmt Stellung, kommentiert, kritisiert.
Alle müssen mitreden dürfen
Dennoch spielen die Sprache und vernünftige Kommunikation in Habermas’ Werk eine entscheidende Rolle: Dass alle vernünftig ihre Argumente einbringen und im «herrschaftsfreien Diskurs» miteinander ins Gespräch kommen dürfen, sei vor allem in Demokratien wichtig.
Im öffentlichen Raum, so Habermas’ Forderung, soll über alles frei gesprochen und vernünftig gestritten werden können. Nur so liesse sich Gerechtigkeit finden.
Aus diesem Grundsatz ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Politik, wie ein Wahl- und Stimmrecht für Ausländer und Ausländerinnen. Nur im fairen Austausch, ist sich Habermas sicher, kann man sich der Wahrheit annähern und Gesetze legitimieren.
60 Jahre Vordenken
Die Öffentlichkeit wird erstmals 1953 auf Habermas aufmerksam, als der junge Philosophiestudent in einem Zeitungsartikel Martin Heideggers «Einführung in die Metaphysik» rezensiert und den Star-Philosophen scharf für seine Nähe zur NS-Diktatur kritisiert.
Wenig später arbeitet er als Forschungsassistent von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Frankfurt und wird von den Hauptvertretern der Kritischen Theorie massgeblich beeinflusst. In Deutschland gilt er schon in den 1960er-Jahren als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes.
Seitdem sorgt er mit seinen Zwischenrufen immer wieder für einen lebendigen Diskurs und vertritt nicht selten umstrittene Positionen. «Was mich bei Habermas fasziniert, ist die enge Verschränkung von philosophischer Reflexion und öffentlicher intellektueller Aktivität», erklärt Felsch. «Er hat den Philosophen darauf verpflichtet, auf der Höhe aktueller politischer Probleme zu denken.»
Verwilderter Diskurs
Ob Klimawandel, Ukraine-Krieg oder Nahost-Konflikt, Habermas bezieht nach wie vor öffentlich Stellung. «Die politische Lage in Europa heute beurteilt Habermas sehr hellsichtig», meint Felsch. Der Philosoph habe jedoch einen düsteren, entmutigten Blick auf die Situation im Westen entwickelt, insbesondere aufgrund der innenpolitischen Verwerfungen in den USA.
Auch die sozialen Medien gäben ihm zu denken. Obwohl Medien als Kanäle des freien Austauschs für Habermas so wichtig sind, werfe er digitalen Plattformen vor, zur «Verwilderung des Diskurses» beizutragen: «Wir müssen erst mal lernen, was es heisst, sich öffentlich zu äussern», so Felsch.
Entsprechend habe die Philosophie von Habermas immer auch etwas Pädagogisches. Bleibt zu hoffen, dass sich sein Vertrauen auf den «zwanglosen Zwang des besseren Arguments» auch im digitalen Zeitalter bewährt.
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