Ich bin Elma Softic, 25 Jahre alt, habe bosnische Wurzeln und bin Reporterin für SRF. Im Februar 2024 stehe ich vor einer besonders emotionalen Situation: Ich muss mich von meiner Tante Mersiha Osmanovic verabschieden. Die 50-Jährige kam als Teenagerin in die Schweiz, weil ihr Vater eine Anstellung als Fabrikarbeiter fand. Ursprünglich war der Aufenthalt nur vorübergehend geplant, doch als der Krieg in Ex-Jugoslawien ausbrach, änderten sich die Pläne.
Nun lebt Mersiha Osmanovic schon seit 37 Jahren mit ihrem Ehemann Mehdin und ihren Töchtern in der Schweiz. Der Traum von der Rückkehr in ihre Heimat war stets im Hinterkopf: «Ich hatte immer den Wunsch, wenn ich 50 Jahre alt bin, zu gehen. Ich will ein ruhiges Leben: keine Termine, keinen Stress, keine Rechnungen», erklärt Mersiha Osmanovic.
Mersiha Osmanovic und ihr Ehemann lassen ihre beiden Töchter Aida und Azra in der Schweiz zurück – beide sind bereits erwachsen. «Schon als wir klein waren, haben sie uns immer gesagt, dass sie zurückwollen. Der Balkan ist wie die Schweiz für uns – er ist ihre Heimat», erklärt Aida.
Die Familie Osmanovic ist kein Einzelfall: Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) hat sich die Anzahl der Personen, die aus der Schweiz auf den Balkan ziehen, in den vergangenen zehn Jahren beinahe verdoppelt.
Zwischen zwei Welten
Auch meine Mutter verkraftet es nur schwer, dass sie jetzt ohne ihre Schwester in der Schweiz zurückbleibt. «Ich freue mich für sie, aber es tut weh. Wir waren nie getrennt und sie steht mir sehr nahe», so Mediha Softic. Auch meine Mutter habe vor, nach Bosnien zurückzukehren, doch sie fühlt sich noch nicht bereit, die Schweiz zu verlassen: «Ich muss es fühlen, wann der richtige Moment ist. Ich weiss nicht, ob ich mich ganz lösen kann von der Schweiz. Denn sie ist genauso mein Heimatland wie Bosnien.»
Der Begriff der Heimat wird für viele Rückkehrer zu einer emotionalen Herausforderung. Während die Schweiz über die Jahre zur zweiten Heimat wurde, bleibt die alte Heimat auf dem Balkan ein Ort der tiefen Verwurzelung. Doch bei der Rückkehr müssen sich viele eingestehen, dass sich das Land, das sie verlassen haben, verändert hat – ebenso wie sie selbst: Alte soziale Netzwerke bestehen nicht mehr, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten haben sich gewandelt.
Viele Rückkehrer fühlen sich fremd in dem Land, das sie einst Heimat nannten. Auch eine erneute Rückkehr in die Schweiz behalten sich daher viele offen.
Romantik trifft auf Realität
Ein zentrales Thema für viele Rückkehrende ist die medizinische Versorgung, die meist nicht den hohen Standards in der Schweiz entspricht: Das Gesundheitssystem in Ländern wie Bosnien-Herzegowina leidet noch immer unter den Nachwirkungen des Krieges. Besonders in ländlichen Regionen sind medizinische Einrichtungen oft unterversorgt und Korruption erschwert den Zugang zu qualitativ hochwertigen Behandlungen.
Ein weiterer Aspekt, der bei der Rückkehr eine Rolle spielt, ist die wirtschaftliche Situation auf dem Balkan: Die Arbeitslosenquote ist in Ländern wie Bosnien mit rund 14 Prozent deutlich höher als in der Schweiz. Viele Rückkehrer unterschätzen die wirtschaftlichen Bedingungen in ihrer alten Heimat. Besonders für jüngere Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, bietet der Arbeitsmarkt auf dem Balkan oft nicht die gleichen Perspektiven wie in West- und Mitteleuropa.
Ausserdem ist die politische Lage auf dem Balkan geprägt von ethnischen Spannungen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und instabilen politischen Strukturen.
Fremd in der alten (neuen) Heimat
Ein weiteres grosses Thema ist die kulturelle und soziale Anpassung: Besonders diejenigen, die lange Zeit in der Schweiz gelebt haben, fühlen sich oft «zwischen zwei Welten» gefangen: In der Schweiz stehen persönliche Freiheit und Struktur im Vordergrund, während auf dem Balkan das Familienleben und das Dorfleben eine zentrale Rolle spielen.
Hier sind die Menschen viel offener, man wird direkt in die Gemeinschaft eingebunden.
Die kulturellen Unterschiede stellen für viele Rückkehrer eine Hürde dar, besonders für die zweite Generation, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen ist. Sie haben oft Schwierigkeiten, sich mit den Traditionen und Werten der Heimat ihrer Eltern zu identifizieren.
Das Leben auf dem Balkan: einfach, aber entspannt
Auch ich erlebe das, als ich nach Bosnien reise. Ich will herausfinden, was meine Eltern und Verwandten dorthin zieht. Meine erste Station ist Sarajevo, wo meine Familie ein kleines Apartment besitzt. «Das Apartment ist winzig, die Küche alt, und überall sind Risse in den Wänden», bemerke ich: «Es ist schon ganz anders als in der Schweiz.»
Ich will in Sarajevo von den Einheimischen wissen: Wie ist das Leben hier in Bosnien? Die Antworten sind vielfältig. Viele loben die Einfachheit des Lebens. «Wunderschön! Warum seid ihr gegangen?», fragt eine Person. Eine andere sagt: «Das Leben hier ist einfach, aber entspannt.»
In diesen Gesprächen wird mir klar, warum meine Eltern zurückkehren wollen: Es sind die vielen freundlichen Begegnungen und die tiefe Verwurzelung der Gastfreundschaft in der Kultur des Balkans.
Im Vergleich dazu erscheint die Schweiz oft zurückhaltend. «Auf dem Balkan sind die Menschen viel offener, man wird direkt in die Gemeinschaft eingebunden», merke ich. In der Schweiz hingegen wird viel Wert auf Privatsphäre gelegt, was für Aussenstehende distanziert wirken kann.
Ein Kontrast zur hektischen Schweiz
Ich besuche meine Tante Mersiha Osmanovic. Mittlerweile leben sie und ihr Ehemann seit sechs Monaten in einem Haus in einem kleinen Dorf namens Kalesija. Mit ihrem Ersparten haben sie sich frühzeitig zur Ruhe gesetzt.
Der Bau eines Hauses mit rund 120 Quadratmetern kostet in Bosnien je nach Region zwischen 120’000 und 180’000 Franken. Auch die Lebenshaltungskosten sind im Vergleich zur Schweiz deutlich tiefer: Sie belaufen sich auf rund 500 bis 700 Franken pro Person und Monat. Mit der vorzeitig ausgezahlten Schweizer Pension lässt sich hier ein angenehmes Leben führen. Sollte das Budget dennoch nicht ausreichen, stehen einem die Kinder unterstützend zur Seite – eine ganz alltägliche Praxis in der Balkan-Kultur.
«Ich verbringe viel Zeit in meinem Garten. Es war ein heisser Sommer mit bis zu 40 Grad», erzählt sie und zeigt stolz ihre Tomaten. Sie geniesst das ruhigere Leben. «Man muss auf einiges verzichten, aber es kommt darauf an, was man im Leben will. Will man für Materialismus arbeiten oder das, was man hat, geniessen?»
Für sie und ihren Mann ist nun die Zeit gekommen, das Leben fernab des hektischen Alltags zu geniessen – ein klarer Kontrast zu ihrem früheren Leben in der Schweiz.