Packende und aufwühlende Einblicke in das Fühlen und Denken vergangener Generationen: Das bietet das historische Sachbuch des renommierten britischen Historikers Simon Sebag Montefiore.
In «Geschichte schreiben – Briefe, die die Welt veränderten» präsentiert Montefiore über 100 Briefe aus allen historischen Epochen und Kulturen: von den alten Ägyptern über Josef Stalin bis in die unmittelbare Gegenwart.
Der direkte Draht
Es gehe «doch nichts über die Unmittelbarkeit und Originalität eines Briefes», schreibt Montefiore. Mit seinem Buchtitel trägt er allerdings etwas gar dick auf. Briefe haben wohl nur in den seltensten Fällen tatsächlich Geschichte geschrieben.
Allerdings hat sich die Geschichte immer wieder in Briefe eingeschrieben. Und genau darum geht es: In den Briefen treten Herausforderungen ungefiltert zutage, welche die Menschen zu anderen Zeiten beschäftigt haben.
Die Schreibenden werden greifbar als fühlende Wesen – zweifelnd, verängstigt, wütend, entschlossen, blind vor Liebe.
Wegmarken der Geschichte
Längst nicht alle Briefe sind so eng verknüpft mit Schlüsselmomenten der Geschichte wie derjenige vom Sommer 1914: Der deutsche Kaiser Wilhelm II. sagt seinem Amtskollegen Franz Josef in Österreich-Ungarn bedingungslose Bündnistreue zu.
Es geht um die Auseinandersetzung mit Serbien. Wilhelms «Blankoscheck» ermutigte Franz Josef zur Unnachgiebigkeit – und setzte schliesslich das Gemetzel des Ersten Weltkriegs in Gang.
Unbekannte Seiten
Andere Briefe eröffnen ungewohnte Blicke auf bekannte Persönlichkeiten. So erweist sich Napoleon in einem Brief vom April 1796 an seine geliebte Joséphine als heissblütiger Liebhaber. Statt eines Grusses schreibt er am Ende: «Einen Kuss aufs Herz und einen weiter unten, viel weiter!»
Auch Familiäres ist zu erfahren. So in einem auf den 30. Juli 1775 datierten Brief der österreichischen Herrscherin Maria Theresia an ihre Tochter Marie-Antoinette, Königin von Frankreich. Die Mutter schilt die Tochter für deren «Leben der Vergnügungen und der grotesken Zurschaustellung».
14 Jahre vor der Französischen Revolution bringt dieses Schreiben trefflich die Furcht einer Herrscherin vor dem heraufziehenden «Ungemach» auf den Punkt.
Den Schreckensherrscher erschreckt
Manche Briefe erzählen von Seitengeschichten. Etwa zur konfliktträchtigen Abspaltung Jugoslawiens aus dem kommunistischen Block nach dem Zweiten Weltkrieg.
Stalin schickte wiederholt Attentäter zur Ermordung seines widerborstigen Gegenspielers Marschall Tito nach Belgrad. Sie verfehlten allesamt ihr Ziel, versetzten Tito jedoch dermassen in Rage, dass er 1948 einen geharnischten Brief an Stalin aufsetzte.
«Wenn du nicht aufhörst, Killer zu schicken, werde ich einen sehr effizienten nach Moskau schicken, und ich werde ganz bestimmt nicht noch einen zweiten schicken müssen.» Stalin hielt sich fortan zurück. Titos Brief verstaute er in seinem Privatsafe.
Ungewohnter Zugang
Sebag Montefiore stellt der besseren Verständlichkeit wegen den einzelnen Briefen kurze erläuternde Einführungstexte voran. Trotzdem bleibt diese Art der Geschichtsschreibung angreifbar. Die Auswahl ist stark subjektiv. Eine ausgewogene Darstellung und Würdigung des historischen Geschehens kann so nicht erfolgen.
Zudem fokussiert Montefiore einseitig auf bekannte Persönlichkeiten. Sozial- und wirtschaftshistorische Aspekte fallen fast völlig unter den Tisch. Lohnend ist die Lektüre dieses anekdotenhaften Streifzugs durch die Vergangenheit allemal – weil er überrascht, wenig Bekanntes ans Licht befördert – und Bekanntes in neuem Licht erscheinen lässt.