«Die Krankheit hat schon Jahre vor der Diagnose 2022 eingesetzt», sagt Corina Pfister. Sie lebt mit ihrem Mann in Wolfhalden im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Ihr Garten, von dem aus man über den Bodensee blicken kann, gleicht einer Oase. Nebst Blumen und Gemüse gibt es ein grosszügiges Gehege mit Hühnern und Hasen.
2019 hatte Corina Pfister einen Unfall. Sie fiel auf den Hinterkopf. Danach plagten sie tagein, tagaus Kopfschmerzen. Die Ärzte fanden nicht heraus, woran es liegt. Die ständigen Schmerzen schlugen ihr auf das Gemüt. Daraus folgte die Diagnose «Depression». Aber auch hier halfen entsprechende Medikamente nicht.
Meine Beschwerden hatten endlich einen Namen, und es war nicht Depression.
Erst, als sie ihrem Psychiater erzählte, dass sie im Einkaufszentrum ihren Einkaufswagen nicht mehr fand, veranlasste er, sie auf Demenz abzuklären. Die Diagnose kam am 31. Oktober 2022: Frühdemenz, Typ Alzheimer.
Dass ihre Krankheit endlich benannt werden konnte, bezeichnet Corina Pfister als Segen: «Meine Beschwerden hatten endlich einen Namen, und es war nicht Depression», sagt sie. «Die Gewissheit hat mich erleichtert.»
Erste Anzeichen der Demenz
Corina Pfister arbeitete bis vor dem Sturz bei einem KMU in der Region. Da war sie 20 Jahre lang zuständig für die gesamte Verwaltung. «Ich mochte meine Arbeit, sie bereitete mir aber immer mehr Mühe», sagt sie. Organisieren, mit Zahlen umgehen und auch die Arbeit mit dem Computer machten ihr grossen Spass.
Du kannst einfach nicht mit Veränderungen umgehen!
Je länger, je mehr fiel ihr aber genau das Arbeiten am PC schwer, besonders wenn sie durch Telefonate abgelenkt wurde. Deshalb ging sie oft auch ausserhalb der Arbeitszeit ins Büro: Dann erledigte sie die Aufgaben, die besondere Konzentration erforderten.
Diese «Selbsthilfe» hatte zur Folge, dass sich Berge von Überstunden anhäuften. Im Geschäft wurden ihre Schwierigkeiten am PC gesehen. «Du kannst einfach nicht mit Veränderungen umgehen», wurde ihr vorgeworfen. Kurz darauf folgte die Entlassung.
Corina Pfister streitet nicht ab, dass sie der Arbeit nicht mehr gewachsen war. Es habe aber nicht an Verschlossenheit gegenüber Veränderungen gelegen. Sie ist überzeugt: Das waren erste Alzheimer-Anzeichen.
Das bestätigt die Organisation Alzheimer Schweiz . Probleme mit einfachsten Routine-Aufgaben können neben Vergesslichkeit oder Orientierungsschwierigkeiten Zeichen einer Demenzerkrankung sein. Hinzu kommt, dass sich die ersten Symptome der Demenz teils erst 15 bis 20 Jahre später zeigen, als man eigentlich erkrankt ist. Laut Alzheimer Schweiz erkrankt in der Schweiz alle 16 Minuten eine Person an Demenz.
Damit Corina Pfister finanziell über die Runden kommt, geht sie heute putzen. Das gebe ihr nicht nur Lohn, sondern auch Struktur. Diese sei wichtig. Wenn sie keine Struktur hätte, würde sie sich im Tag verlieren. Struktur findet sie auch in einer Tagesklinik, einmal die Woche. Von der Invaliden-Versicherung bekommt sie im Moment noch kein Geld, dafür sei sie noch am Kämpfen.
Krankheit schleicht sich in jeden Bereich des Lebens
Wenn Corina Pfister nicht im Haushalt arbeitet oder den Garten hegt und pflegt, geniesst sie ihre Zeit in der eigenen kleinen Werkstatt im Keller. Sie weiss mit allen Materialien zu hantieren: Basteln und Werken war für sie schon immer eine grosse Leidenschaft.
Ausser, es gibt etwas zu backen: Dann haben Zucker, Mehl und Backpulver Vorrang. Vor der Diagnose backte Corina Pfister in der Weihnachtszeit 35 unterschiedliche Weihnachtguetzli, auch, um das Bundeshaus zu beliefern. Heute seien es wesentlich weniger Sorten, und bevor sie zur Tat schreitet, sei das «Mise en Place» unumgänglich. Mache sie die Zutaten vorher nicht bereit, ende die Backerei im Chaos. Früher ging alles aus dem Handgelenk. Dass das heute nicht mehr geht, das tue weh.
Die Wesensveränderung spüre ich nicht, das nimmt vor allem mein Umfeld so wahr.
So «frisst» sich der Alzheimer mehr und mehr ins Leben. Auch ihr Wesen habe sich in den vergangenen zwei Jahren verändert. Heute ärgert sie sich zum Beispiel viel schneller als früher.
Allerdings sagt Corina Pfister: «Diese Wesensveränderung spüre ich nicht, das nimmt vor allem mein Umfeld so wahr.» Was sie aber an sich beobachtet: Sie sei viel sensibler geworden. Brauchte früher jemand Hilfe, sei es wegen einer körperlichen Verletzung oder einer seelischen, ging sie auf diesen Menschen zu und versuchte, zu helfen. Ihr habe das nichts ausgemacht. Heute fühlt sie den Schmerz ihres Gegenübers mit, sie empfinde alles viel extremer.
Das Vergessen organisieren
Im Laufe des Lebens hat sich Corina Pfister viele Fähigkeiten angeeignet, die ihr nun helfen, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen, um möglichst lange selbstständig leben zu können. Durch ihre jahrelange Erfahrung in der Verwaltung ist sie eine Meisterin des Organisierens. Ein Beispiel ist ihr Kalender. Diesen führt sie minutiös: Steht ein Familienanlass auf dem Programm, ist dieser gelb markiert. Arzt- oder Therapiebesuche orange, die Farbe Grün steht für Arbeit.
Der bunte Kalender hängt in der Küche an der Wand. Sie weiss, irgendwann kann sie die Farben und Termine nicht mehr einordnen. Was sie von sich aber auch weiss: dass sie auf Bilder reagiert. Also gestaltet sie in ihrem Büro nun Piktogramme.
Die Küchenschränke sind ebenfalls gekennzeichnet. Corina Pfister hat fotografiert, wie sie die Schränke eingeräumt hat. Diese Fotos hat sie auf kleinen Magneten angebracht. So muss sie nicht überlegen, was wohin gehört, sie sieht es auf dem Magnet. Heute brauche sie diese noch nicht, sagt sie, aber «der Tag kommt noch, an dem meine Idee, wie ich ein Kästchen einräume, nur noch wenig Logik hat.»
Wenn Corina Pfister von ihrem Schicksal erzählt, strahlt sie Stärke aus. «Irgendwann in meinem Leben habe ich mir gesagt, ich möchte nie ein Opfer sein», erklärt sie. Sie wolle dieser Krankheit jetzt noch nicht die Kontrolle übergeben, ihr noch keinen freien Lauf lassen.
Ein Leben mit Alzheimer ist möglich.
Diesen Mut möchte sie auch Mitbetroffenen in der Tagesklinik weitergeben. Es sei sehr wichtig, sich auf das zu konzentrieren, was noch möglich sei und nicht auf das, was nicht mehr geht. «Ein Leben mit Alzheimer ist möglich», ist Corina Pfister überzeugt. Die bedrohlichen Geschichten, die kursieren, zeigen immer nur das Endstadium. Bis dahin führe aber ein Weg, und dieser heisse Leben.
Wie sieht die Zukunft aus?
Corina Pfister weiss, der Tag wird kommen, an dem der richtige Platz für sie eine entsprechende Einrichtung sei. Sie hat sich auch schon eine angeschaut. Da wird betreutes Wohnen angeboten, der Ort sei sehr schön und mache einen guten Eindruck.
Jetzt aber sei es zu früh für diesen Schritt, sagt Corina Pfister. Sie schaut auf die Uhr und macht klar, dass sie noch weiter muss. Sie will noch eine Geburtstagstorte für ihre Mutter backen.
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