TikTok ist für Spass- und Tanz-Videos bekannt. Ausgerechnet auf dieser Plattform will die norddeutsche KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Erinnerung an den Holocaust wachhalten. Wie das gelingen kann, erklärt die Historikerin und Mitarbeiterin der Gedenkstätte Iris Groschek Interview.
SRF: Als Gedenkstätte ist es eine Ihrer Aufgaben, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Wieso wählen Sie dafür ausgerechnet eine Plattform wie TikTok?
Iris Groschek: Auf TikTok hoffen wir, eine junge Zielgruppe zu erreichen. Tatsächlich ist es auch eine sehr politische Plattform, wo gesellschaftskritische Themen verhandelt werden. Deswegen ist es ein Ort, an dem historisch politische Bildung geschehen kann, und zwar direkt mit und in der jungen Generation.
Wir sind als Gedenkstätte schon seit zehn Jahren auf Social Media aktiv. Es ist uns wichtig, kein stiller Ort zu sein, sondern die Themen in die Welt hinauszutragen und im Alltag der Menschen präsent zu sein.
Auf TikTok sind die Videos sehr kurz, oft weniger als 30 Sekunden lang. Wie kann man auf diese Weise Informationen darüber zu vermitteln, was in solchen Lagern geschah?
Natürlich kann in 30 Sekunden nicht die Geschichte des Lagers vermittelt werden. Das ist aber auch gar nicht das, was wir machen wollen. Ich glaube, dass durch viele kurze Videos viel schneller die Aufmerksamkeit einer Generation Z erregt werden kann. Dann schauen junge Menschen vielleicht weitere Videos an – es ist wie ein Puzzle: Viele kurze Videos ergeben ein grosses Gesamtbild.
Eines der Videos beginnt wie ein Unterhaltungs-Quiz, bei dem man die Namen von Konzentrationslagern nennen muss. Dann informieren zwei junge Männer kurz und sachlich über Neuengamme. Trotzdem habe ich über diese Quiz-Form erstmal leer geschluckt. Wie geht Ihnen das als Historikerin?
TikTok ist ein Format, in dem ganz neu gedacht werden muss. Gedenkstätten können durchaus leer schlucken über solche Formen der Vermittlung. Wir erhoffen uns dadurch, dass junge Menschen dranbleiben und weitere informative Videos anschauen.
Erinnerungskultur ist etwas, was immer wieder neu verhandelt werden muss.
Es ist immer wieder eine Herausforderung zu überlegen, was auf der einen Seite einem solchen Ort angemessen ist und was auf der anderen Seite zu der gewählten Plattform passt. Denn nur so können wir dort Aufmerksamkeit erhalten und mit einer Community in einen Dialog kommen.
Tatsächlich wurden einige dieser Videos mehr als 200’000 mal angeschaut. Wie weit darf man gehen im Bemühen, die Erinnerung wach zu halten?
Erinnerungskultur ist etwas, was immer wieder neu verhandelt werden muss. Welche Form darf, kann, soll Erinnerung heute und morgen haben? Deswegen finde ich es spannend, auch Formate auszuprobieren, die im ersten Moment vielleicht ungewöhnlich wirken und auszuprobieren, ob darüber Gedenkarbeit möglich ist.
Wie sind die Reaktionen darauf?
Sehr vielfältig. Es gibt nicht nur positive Reaktionen. Es wird auch die Erinnerungskultur an sich verhandelt, und es gibt Menschen, die das nicht angemessen finden.
Wir haben in diesem Format von TikTok auch erstaunlich viele Kommentare erhalten, die den Holocaust relativieren. Das ist uns in anderen Social-Media-Accounts so nicht passiert. Das war für uns eine eher negative Überraschung. Das heisst, dass wir unseren Auftritt sehr stark begleiten müssen.
Das Gespräch führte Irene Grüter.