Eine aktuelle Untersuchung zeigt: Das Coming-out fällt auch heute noch vielen Menschen schwer. Sichtbarkeit und rechtliche Absicherung bringen viel, sagt der Psychologe Udo Rauchfleisch, der über 40 Jahre unter anderem zum Thema Homosexualität geforscht und publiziert hat. Aber eine nicht-heterosexuelle Orientierung soll möglichst früh zum Thema in der Erziehung werden.
SRF: Nehmen wir an, ein jugendlicher Mensch merkt, dass er oder sie nicht hetero ist. Was passiert?
Udo Rauchfleisch: Für Jugendliche ist das nach wie vor ein Riesenproblem. Etliche Untersuchungen zeigen immer wieder, dass zum Beispiel lesbische oder schwule Jugendliche einen wesentlich höheren Anteil an Depressionen, Angststörungen, auch Suizidalität haben als heterosexuelle Jugendliche.
Wie können Eltern, wie kann die Familie da helfen?
Kinder senden manchmal – ganz vorsichtig – Signale. Eltern müssten das Gespräch anbieten und fragen: Du, ist irgendwas? Wenn das Kind das nicht weiter bereden möchte, ist es okay. Aber das Kind hat immerhin die Nachricht gehört. Und wenn es reif ist, redet es darüber.
Dann ist die nächste Frage: Wie gehen wir damit um? Denn ein Coming-out ist auch eines für die Eltern. Sie müssen ihren Verwandten, Freundinnen und Freunden bekannt geben: Unser Kind ist anders als das die Umwelt wahrgenommen hat. Es ist nicht heterosexuell, sondern trans oder lesbisch, schwul, bisexuell.
Es gibt Eltern, die am Anfang enorme Mühe haben, sich auch scheuen vor ihrem Coming-out gegenüber anderen und mit der Zeit dann doch ganz gut die Kurve bekommen und sagen: Ja, wir machen das zusammen. Das schweisst Familien auch sehr zusammen.
Wie weit sind wir gesellschaftlich mit der Toleranz?
Es gibt in der Gesetzgebung den Diskriminierungsschutz. Sexuelle Minderheiten wurden in diesen aufgenommen, trans Menschen leider nicht. Es gibt die eingetragene Partnerschaft. Und auch in der Bevölkerung gibt es Fortschritte hinsichtlich der Akzeptanz.
Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Coming-out je nach Kontext ein gewisses Risiko ist. Es gibt eine gewisse Political Correctness. Es gibt Kreise, da gehört es einfach dazu, sich offen zu geben. Aber unter der Oberfläche kann da doch noch sehr viel Ablehnung bestehen.
Gruppen oder Erscheinungen, die nicht zum Mainstream gehören, irritieren, weil sie zeigen: Es geht auch anders.
Die Toleranz ist nicht immer so gross wie vermutet?
Es ist immer noch ein Risiko, abgelehnt zu werden, etwa in konservativen oder traditionell religiösen Kreisen, egal welcher Religion. Gruppen oder Erscheinungen, die nicht zum Mainstream gehören, irritieren, weil sie zeigen: Es geht auch anders. Sie stellen traditionelle Vorstellungen der Familie und Rollenbilder infrage. Das kann Aggressionen auslösen.
Was ist mit geschlechtlichen Minderheiten – also trans Menschen?
Trans Menschen sprechen von einem zugewiesenen Geschlecht, das ihrem inneren Geschlecht nicht entspricht. Deshalb sagen trans Menschen auch nicht, ich fühle mich nicht als Mann sondern: Ich bin anders. Da ist das Coming-out nochmal ein ganzes Stück schwieriger, weil das noch mehr Irritation auslöst in einer Umgebung, die binär zwischen Mann und Frau unterscheidet.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Prinzipiell mehr Respekt und Akzeptanz gegenüber Vielfältigkeit. Sichtbarkeit und rechtliche Absicherung bringen schon viel. Was wichtig wäre: Das Thema muss ganz früh in die Familien, in die Erziehung hinein.
Es muss auch in Kinderbücher hinein und in die Schulbücher, nicht nur in Biologie neben Zeugung, Empfängnisverhütung oder AIDS. Sondern da müsste es auch die gleichgeschlechtliche Beziehung geben als etwas, was es einfach gibt, als eine der Möglichkeiten.
Das Gespräch führte Franz Kasperski.