«Neuland» ist eine Streitschrift. Die Autorinnen und Autoren schreiben, die Schweiz sei nie eine homogene Nation gewesen. Diese Vorstellung, die «durch ihre Mythen und die konstruierte gemeinsame Geschichte als etwas Uraltes und Natürliches verstanden» werde, sei «eine Konstruktion der Moderne».
Die zentrale Herausforderung für die Schweiz bestehe darin, dass das Land sein Selbstbild mit den gesellschaftlichen Realitäten in Einklang bringe:
«Wir brauchen (…) eine Erzählung für das Migrationsland Schweiz, die es erlaubt, unsere Lebenswelt sinnvoll einzuordnen. Eine Erzählung, die den Bewohnerinnen und Bewohnern der Schweiz eine gemeinsame Sprache verleiht, um die politische Identität – das Wir – und dessen Integrationskraft zu stärken.»
Viele Zahlen unterstreichen liberalen Standpunkt
Diese Erzählung solle sich nicht auf eine gemeinsame Herkunft berufen. Sie solle näher an der Realität sein als «das Bild der selbstgewählt isolierten Heidi-Schweiz». Sie solle auch ausgewogener sein als die Idee, die Schweiz sei ein «von aussen bedrohtes» Land, das «Wohlstand, Freiheit und Unabhängigkeit» schützen müsse.
Die Erzählung, die «Neuland» vorschlägt, betont das Positive der Migration. Fakten sind ein wichtiges Element dieses Arguments: 28 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind im Ausland geboren, 36 Prozent haben mindestens einen Elternteil, der im Ausland zur Welt kam. Knapp 30 Prozent der Arbeitsstunden leisten Menschen mit ausländischem Pass.
Das Buch «Neuland» enthält viele, vor allem wirtschaftliche Zahlen. Sie unterstreichen den liberalen Standpunkt des Buches, der natürlich der des aussenpolitischen Think-Tanks «foraus» ist: Zugewanderte tragen zum Erfolgsmodell Schweiz bei. Sie arbeiten, zahlen Steuern und Beiträge für die Sozialversicherungen. Sie verwirklichen Ideen und bringen kulturelle Einflüsse ein. Neu ist das nicht, in der Zusammenstellung dennoch wertvoll – und auch in den Schlüssen, die die Autorinnen und Autoren daraus ziehen.
Alle sollen politisch mitbestimmen können
Ein Land, das so stark globalisiertes ist, müsse allen Einwohnerinnen und Einwohnern gleichberechtigte Teilhabe und Zugehörigkeit ermöglichen. Denn ein Gemeinwesen funktioniere nur und am besten, wenn alle die öffentlichen Angelegenheiten gemeinsam regeln wollen. Deshalb müssten alle politisch mitbestimmen können. Sie sollen sich zum Beispiel einfacher einbürgern können und nicht in Unsicherheit leben müssen wie Asylsuchende als «vorläufig Aufgenommene».
Werden alle einbezogen, beuge dies auch extremistischen Tendenzen vor: «Am Anfang von Radikalisierung steht (…) oft die wahrgenommene Benachteiligung und Bedrohung der eigenen Identität und der Interessen der eigenen identitären Gruppe. Gefühle der Entfremdung und des Ausgeschlossenseins werden durch reale und imaginierte soziale Schwierigkeiten verstärkt.»
Fast jeder Staat sei heute Herkunfts-, Transit- und Zielland von Migration. Migranten seien «keine Störung der helvetischen Gemütlichkeit, sondern ein elementarer Teil von dem, was die Schweiz ausmacht».
Ängste werden nur knapp behandelt
Wie gesagt: «Neuland» ist eine Streitschrift. Sie liefert erklärtermassen «optimistisches Storytelling» und «positive Bilder» von Migration – für eine konstruktivere Diskussion.
Die Autorinnen und Autoren entwerfen auch Massnahmen für eine liberalere Politik: Sie denken nach über eine Erhöhung der Einwanderungskontingente. Und über den Abbau von Zuwanderungsbedingungen, etwa durch spezifische Arbeitsvisa oder den Ersatz der Zulassungskriterien durch einen Geldbetrag. Dieser Betrag wäre immer noch deutlich geringer als die ökonomischen und sozialen Kosten, die Menschen für die illegale Einwanderung bezahlen müssen.
Auch wenn die Ängste, die Migration bei manchen auslöst, nur knapp behandelt werden, ist «Neuland» ein wertvoller Diskussionsbeitrag. Er wird nicht nur in Fachkreisen Widerhall finden.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 22.05.2017, 06:40 Uhr