Identitätspolitik sei ein Feld voller strategischer Missverständnisse, schreibt Kunstwissenschaftler Jörg Scheller in seinem Essay «Identität im Zwielicht».
Statt dem Verständnis für Minderheiten zu dienen, schüre sie bloss Emotionen. Es sei darum nötig, Identitätsdebatten sachlicher zu führen, fordert Scheller.
SRF: Ist Identitätspolitik per se schlecht?
Jörg Scheller: Nein, Identitätspolitik halte ich für unumgänglich. Sie ist zunächst einmal eine Möglichkeit, spezifische Situationen zu analysieren: Wie geht es einer konkreten Gruppe? Was ist das Besondere an ihr? Welche Massnahmen muss man treffen, um etwas zu verbessern?
Das ist, was Identitätspolitik sein könnte. Aber wir schliessen häufig von unseren eigenen Identitätsvorstellungen auf andere. Und wir pressen andere in Identitätskategorien hinein.
Wird Identitätspolitik immer für die eigene Sache instrumentalisiert?
Das ist ein gängiger Umgang mit Identitätspolitik. Das muss nicht sein. Identitätspolitik kann dazu beitragen, ein Verständnis für andere zu entwickeln.
Wir sind viel mehr als was unsere Nationalität oder unser Geschlecht über uns verraten.
Was läuft denn schief?
Ich kann Identitätspolitik wie das sprichwörtliche Messer zum Butter streichen oder zum Angriff auf den Gegner verwenden.
Am Eindrücklichsten sind diese Kämpfe in den sozialen Netzwerken, wo man sich Kollektivsingulare an den Kopf wirft. Hier die intersektionale Feministin, dort der alte weisse Mann, hier die grünen Träumer, dort die gierigen Liberalen.
Das sind konfektionierte Identitätskategorien. Sie sind nicht analytisch, mit denen begreifen wir die Realität nicht.
Aber mal ehrlich: Wie definiert man denn jemanden, wenn nicht über die Identität? Solche Zusammenfassungen geben uns doch auch die Möglichkeit, über Bedürfnisse zu sprechen.
Natürlich, man erkennt dadurch eventuell Strukturen. Aber man muss aufpassen, dass man nicht jeden Fisch zu einem Hai erklärt, bloss weil ein Hai ein Fisch ist.
Je reflexhafter wir Menschen in Identitätskategorien einsortieren, desto weniger bekommen wir die konkrete Realität in den Blick.
Wie verhindert man, dass das geschieht?
Indem man sich auf echte Menschen einlässt. Sich tatsächlich im physischen Raum begegnet und sich austauscht. Und je besser ich mich kenne, also die Umstände, die mich geprägt haben, umso mehr kann ich mich auch in andere hineinversetzen.
Vor allem aber müssen wir imaginieren lernen. Wir dürfen nicht beim Identifizieren stehenbleiben. Menschen sind Möglichkeitswesen. Wir sind viel mehr als was unsere Nationalität oder unser Geschlecht über uns verraten.
Verfügen wir über genügend Fantasie, um uns eine solche Gesellschaft zu imaginieren?
Ja! Zurzeit sind wir aber in einem Paradigma der Angst und der Krise. Das verunmöglicht das Spielerische und das Offene. Wir versuchen, nichts falsch zu machen und schränken so unsere Potenziale ein. Da müssen wir rauskommen.
Wie denn?
Indem man einerseits Denk- und Spielräume ohne Identitätszwang schafft, andererseits Probleme nüchtern analysiert. Die westliche Moderne favorisiert schnelles Handeln – und schafft ständig neue Probleme, indem sie hektisch die alten löst.
Man darf zudem nicht Kunst, Politik und Wissenschaft vermischen. In der Politik soll nach Lösungen gesucht werden. Parallel dazu kann in freien Denk- und Spielräumen Neues entstehen, das die Politik inspirieren wird. Gerade weil es nicht politisch ist.
Das Gespräch führte Noëmi Gradwohl.