Erst die Flammen brachten alles ans Tageslicht. Am 4. August 2002 brach oberhalb von Niederwangen bei Bern ein Feuer aus. Es brannte im Knabenheim «auf der Grube», in dem seit 1825 «schwierige» Knaben untergebracht wurden. In der Öffentlichkeit hatte es bis anhin als Vorzeigeheim gegolten.
Ein Brandstifter klagt an
Doch das änderte sich schnell. Kurz nach dem Brand meldete sich der Brandstifter, nannte sich «Bubenfreund», und schickte ein Bekennerschreiben an mehrere Medien. Darin forderte er die Schliessung des Heims und erhob schwere Vorwürfe: Es ging um körperliche, psychische und sexuelle Gewalt.
Daraufhin meldeten sich mehrere Ehemalige – die «Gruebe-Buebe» – zu Wort. Sie bestätigten, dass sie im Knabenheim jahrzehntelang Gewalt erlebt hatten, von Schlägen und psychischem Druck bis zu Zwangsarbeit und Missbrauch.
Im Fokus: Der damalige Heimleiter, der die «Grube» von 1966 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 mit harter Hand führte, geprägt von militärischem Geist. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
Alltägliche Demütigungen
«Alle schlugen: Der Heimleiter, der Lehrer, der Bauer, der Schreiner», erinnert sich Heinz Kräuchi. Er war einer der «Gruebe-Buebe». Der heute 59-Jährige wurde als Neunjähriger im Jahr 1972 seiner alleinerziehenden Mutter weggenommen, als Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die Begründung: Die Mutter sei mit der Erziehung überfordert.
Die Berner Vormundschaftsbehörde brachte Kräuchi zusammen mit seinem älteren Bruder ins Knabenheim, wo er sieben Jahre verbrachte, von 1972 bis 1979. Seine kleine Schwester liessen die Behörden bei der Mutter. Man riss die Familie also auseinander.
Zum Hungern gezwungen
Heinz Kräuchi träumt immer noch von der «Grube». Am meisten vom Speisesaal, dort, wo ihn der Heimleiter oft vor dem Schrank stehen liess. Wenn der Junge zu spät zum Essen kam, musste er zusehen, wie die anderen assen. Solche Demütigungen waren an der Tagesordnung.
Bei schlechter Laune versohlte er mir mit einem Stock den Hintern.
Auch an die Schule hat er keine guten Erinnerungen. Die Lehrpersonen haben zu plötzlichen Gewaltausbrüchen gegenüber den Schülern geneigt, erinnert sich Heinz Kräuchi weiter. Der Lehrer habe die Schüler rund um die Uhr kontrolliert, auch nachts in den Schlafräumen.
Der Heimleiter sei mehrmals handgreiflich geworden: «Wenn er schlechte Laune hatte, dann nahm er meinen Kopf zwischen die Beine und versohlte mir mit einem Stock den Hintern.»
Kinderarbeit auf dem Acker
Der Alltag der Kinder war streng: aufstehen um halb sieben, danach Schule und Feldarbeit für den Bauern auf dem Landwirtschaftsbetrieb, der zur «Grube» gehörte. Die Buben mussten stundenlang schuften: Rüben ernten, Kartoffeln einsammeln, heuen und holzen. Pausen gab es selten.
Eine Flucht aus diesem System war nicht möglich. «Wo hätten wir den hingehen können?», fragt Heinz Kräuchi. Seine Mutter durfte er einmal im Monat übers Wochenende besuchen. Wie es ihm im Heim erging, erzählte er ihr nicht. Er wollte sie nicht noch zusätzlich belasten.
Widerstand war zwecklos
Der Fall der Familie Kräuchi sei typisch für diese Zeit, erklärt die Historikerin Tanja Rietmann. Sie forscht am interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern unter anderem zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Sie sagt: «Es waren oft Menschen, die einer sozialen Unterschicht angehörten, die ins Visier der Fürsorge gerieten.»
Diese Entscheide seien nicht hinterfragt worden. Zwar habe es eine minimale Vorschriften zur Aufsicht gegeben, doch: «Selbst diese wurden kaum umgesetzt. Und wenn ein Entscheid einmal gefällt worden war, gab es kein Entrinnen mehr.»
Im Gegenteil: Wer sich gegen einen Behördenentscheid zu wehren versuchte, galt erst recht als verdächtig, erzählt Tanja Rietmann weiter.
Grösstenteils unaufgearbeitet
In einem neuen Buch werden die Geschehnisse auf der «Grube» in den 1960er- und 1970er-Jahren thematisiert. Für die 1980er- und 1990er-Jahre konnten keine Personen gefunden werden, die ihre Geschichte erzählen wollten (auch nicht anonym).
Das Kinderheim wurde 1825 gegründet. Über die ganze Zeit hinweg waren dort etwa tausend Knaben untergebracht. Über das Schicksal der meisten ist nichts bekannt.
In der Schweiz gab es im 19. und 20. Jahrhundert mehrere hundert solche Heime. Tanja Rietmann geht deshalb von Tausenden betroffenen Kindern aus, die Ähnliches erlebten wie Heinz Kräuchi. Über das Schicksal dieser Heimkinder weiss man sehr wenig. Die «Grube» ist eines der wenigen Heime, dessen Geschichte nun aufgearbeitet wird.
Betroffene leiden ein Leben lang
2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen der Landesregierung für das Leid, das die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gebracht hatten. Die Betroffenen hätten Anspruch auf den Solidaritätsbeitrag des Bundes: Das sind 25'000 Franken. Doch viele leiden nach ihrer Zeit im Heim oft ein Leben lang.
«Viele sind gescheitert, abgerutscht, haben Suizid begangen», sagt Rietmann, die mit ihren Studierenden auch Akten von Betroffenen aufarbeitet. «Nur den Stärksten ist es gelungen, sich ein einigermassen eigenes Leben aufzubauen.»
Das zeigt für die Historikerin das Paradox dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die bis 1981 in Kraft waren: «Der Effekt war das Gegenteil dessen, was man sich eigentlich erhofft hatte.»
«Das Grundvertrauen fehlt»
Heinz Kräuchi hat es geschafft, sich trotz der Heimerfahrung ein selbständiges Leben aufzubauen. Doch auch er hatte Krisen: Er brach zwei Lehren ab, kämpfte mit Depressionen.
Viele seiner Bekannten lebten von der IV oder der Sozialhilfe, sagt er. Die meisten würden allein leben und hätten Mühe, Beziehungen zu führen, denn: «Das Grundvertrauen in die Mitmenschen fehlt.»