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Eva Illouz über die Utopie der romantischen Liebe
Aus Sternstunde Philosophie vom 17.03.2019.
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Im Zug mit Eva Illouz Ein Supermarkt namens Beziehungen

Luzern, Bahnhofplatz, Freitagmittag. Menschen strömen. Ein Paar, Ende vierzig, bleibt stehen. Er in schiefergrau, Rollkoffer, Laptoptasche. Sie in Rohseide, ecru, schwarze Lackpumps. Sie sprechen in ihre Smartphones und gehen über die Reuss.

Ich bin mit der Soziologin Eva Illouz verabredet. Sie muss nach Zürich zum Flughafen, wir wollen die Zugfahrt nutzen, um über Beziehungen zu sprechen.

Sie sei guter Dinge, sagt Illouz, als sie plötzlich dasteht. Zugleich sei sie abgekämpft, am Ende einer Woche mit Lehrveranstaltungen im Rahmen der Lucerne Master Class: «Ich habe viel geredet.» Sie legt den Kopf schräg, fast bis auf die Schulter, als könne sie sich ein paar Monate hinlegen. Wir gehen zum Gleis, suchen die erste Klasse, finden sie nicht. Stattdessen steigen wir ins Kinderabteil.

Eva Illouz

Soziologin

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Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Studiendirektorin im Centre européen de sociologie et de science politique in Paris. Sie forscht an der Schnittstelle von Medien, Emotionen, Beziehungen und fragt, wie der Kapitalismus unser Gefühlsleben verändert. (Bild: imago images / Future Image)

SRF: Was macht zwischenmenschliche Beziehungen heute so schwierig?

Eva Illouz: Das ist eine Kombination von Faktoren. Zuallererst macht die Tatsache, dass die Wirtschaft stagniert hat, die Menschen unsicher, was ihre berufliche Zukunft angeht. Ironischerweise untergräbt der Kapitalismus so genau das, was ihn am Leben erhält: Er verhindert, dass Kinder gezeugt werden und mit ihnen neue Arbeiter und Konsumenten.

Anders gesagt, Menschen gehen keine Beziehung ein, sie bekommen keine Kinder, sie heiraten nicht und das ist das genaue Gegenteil dessen, wie der Kapitalismus funktioniert. Er braucht diese Menschen.

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Illouz spricht bedacht und durchstrukturiert, ihre Stimme ist warm. Tiefe Überzeugung und gelassene Unaufwendigkeit sprechen aus jeder Silbe. Nebenan machen zwei Kinder, was sie besonders schön können: streiten. Sie schreien nach «Mami», um uns herum tobt das Leben.

Was sind die anderen Faktoren, die uns Beziehungen erschweren?

Ausser der wirtschaftlichen Unsicherheit macht die sexuelle Revolution der 68er-Bewegung Beziehungen heute so schwierig. Die 68er-Revolution war ausschlaggebend für die Entkoppelung von sexuellen Beziehungen und der Ehe.

Wobei es gute Gründe gab für diese Entkoppelung. Denn es gab den Wunsch, Sexualität von der kirchlichen Sicht zu befreien, es handle sich bei ihr um Sünde. Darüber hinaus konnten Männer sexuell tun und lassen, was sie wollten, während Frauen in ihrer Sexualität kontrolliert wurden.

Es gab also gute Gründe, diese alte starre Ordnung loszuwerden oder, noch präziser ausgedrückt, diese machtgeprägten Strukturen loszuwerden.

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Und was ist die Kehrseite dieser Entwicklung?

Mittlerweile gibt es aber im Umgang mit Sexualität eher eine Konsumentenhaltung, Bedürfnisbefriedigung. Sexualität ist schnell. Man plant sie, wirft sie weg. Erst ist man aufgeregt, dann gelangweilt.

Man trifft Menschen in Restaurants, in Bars, am Strand. Sexualität basiert auf Konsum, sie handelt nur davon, wie attraktiv jemand ist. Attraktivität ist wie eine Ware. Indem wir die Sexualität getrennt von langfristigen Beziehungen begreifen, erhöhen wir die Unsicherheit innerhalb der Beziehungen.

Sexualität ist schnell. Man plant sie, wirft sie weg. Erst ist man aufgeregt, dann gelangweilt.

Es gibt wenige Bereiche des sozialen Lebens, in denen wir derart wenige Regeln haben wie im Bereich der Sexualität. In vielen Situationen wissen wir mehr oder weniger, wie wir uns zu verhalten haben: In einer Schulklasse oder am Arbeitsplatz wissen wir, was zu tun ist. In der Sexualität oder in der romantischen Liebe ist das anders.

Das ist der einzige Bereich, in dem wir nicht wissen, wie wir uns zu verhalten haben. Soziologisch gesehen ist das einzigartig. Das ist eine der Begleiterscheinungen der sexuellen Revolution. Alles hängt heute nur von den Individuen ab. Davon, dass sie in Beziehungen tun, wonach ihnen ist.

Eine Frau mit schwarzem Pullover vor einer Hausfassade. Sie schaut in die Kamera.
Legende: Die romantische Liebe sei ein Mythos, sagt Eva Illouz. Aber das bedeute nicht, dass es sie nicht gebe. laif / Jonas Opperskalski

«Nächster Halt: Rotkreuz», sagt die freundliche Stimme der SBB. Die Geschwister nebenan streiten noch immer, mittlerweile macht auch Mami mit. Illouz sagt, zwischen den Menschen sei fundamentale Verunsicherung zu beobachten. Die grossen Kennenlern-Plattformen im Netz hätten die Art, wie wir Menschen auswählen, verändert. Man wähle auf diesen Plattformen aus einer schier endlosen Zahl von Möglichkeiten, sagt sie.

Wie in einem Supermarkt?

Genau. Wenn Sie diese unbegrenzten Möglichkeiten haben, dann können Sie jemanden auch sehr schnell wegwerfen, weil er etwas getan hat, das Sie verärgert. Menschen haben eine Konsumentenhaltung entwickelt. Sie überlegen: «Wer passt zu meinem Lifestyle?»

Individualität wird immer akzentuierter. Und je akzentuierter die Vorlieben werden, umso schwieriger wird es, jemanden zu finden, der zu einem passt. Das bedeutet auch, dass wir ständig auf der Suche sind. Zwei Menschen, die sich begegnen, checken die ganze Zeit ihr Gegenüber. Wie gut war er im Bett? Wie benahm er sich beim Essen? Wie interessant sind die Unterhaltungen?

Diese Überprüfungen machen die zwischenmenschlichen Interaktionen kälter, weniger spontan und verbindlich. Das macht es schwierig, sich längerfristig für den Einen oder die Eine zu entscheiden.

Ist romantische Liebe nur noch ein Mythos?

Wir leben durch und mit Mythen. Wenn wir sagen, es sei ein Mythos, heisst das nicht, dass es nicht real wäre. Ein Mythos kann sehr real sein. Romantische Liebe ist natürlich ein Mythos, wir brauchen Mythen, um zu leben. Aber wir können zusehen, wie diese Mythen verschwinden.

Einerseits ist der Mythos im Hintergrund noch da, andererseits werden Beziehungen zum kalten Geschäft. Auf der Anreise nach Luzern las ich, dass die oberste Regel der «friends with benefits», der «Freunde mit Vorzügen», lautet: Keine Gefühle.

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Was halten Sie von dieser Regel: Keine Gefühle?

Es gibt heute eine Menge von Beziehungen, zu denen niemand steht, bei denen es nur um Sexualität geht. Ein Freund mit Vorzügen ist jemand, mit dem man nur schläft und an dem man, im romantischen Sinne, nicht interessiert ist. Der Vorzug ist rein sexueller Natur.

Und das ist alles?

Das ist alles. Das ist nicht angenehm. Man schläft miteinander und sagt «Auf Wiedersehen».

Wie wir zusammenleben: 6 Beziehungstypen

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  • Eine Grossfamilie ist eine Familie, in der mehrere Generationen oder enge Verwandte unter einem Dach leben. Die Kindererziehung wird nicht selten von den Grosseltern übernommen.
  • Eine Kleinfamilie besteht aus zwei Generationen, aus Eltern und Kindern. Im Gegensatz zur Kernfamilie, in der alle Kinder leiblich sind, umfasst die Kleinfamilie auch Stief- und Adoptivkinder.
  • Wilde Ehe, Bratkartoffelverhältnis oder Konkubinat meint das Zusammenleben Unverheirateter. Bis zur sexuellen Revolution ist die wilde Ehe negativ konnotiert. In der Schweiz besteht bis in die 1990er-Jahre in einigen Kantonen ein Konkubinatsverbot.
  • Als Patchwork-Familie wird eine Familie bezeichnet, bei der die Elternteile Kinder aus einer früheren Ehe mit in die Beziehung einbringen und auch eigene Kinder zeugen. Die Patchwork-Familie ist keine neue Erfindung, es gibt sie seit vielen Jahrhunderten. Früher resultierte sie aus dem frühen Tod eines Ehepartners. In Deutschland ist sie heute die dritthäufigste Familienform.
  • Eine Regenbogen-Familie bezeichnet eine Familie aus gleichgeschlechtlichen Partnern. Regenbogen versteht sich als Zitat der Regenbogenflagge der LGBTQ-Community. Die meisten Kinder stammen aus heterosexuellen Vorgängerbeziehungen eines Elternteils. Gleichgeschlechtliche Paare können in vielen Ländern Kinder adoptieren, künstliche Befruchtung ist für Gleichgeschlechtliche mit Kinderwunsch ein weiter Weg.
  • «Friends with Benefits», also «Freunde mit Vorzügen», sind Freunde oder Freundinnen, mit denen man Sex hat. Das Verhältnis dauert länger als bei One-Night-Stands, die Bezeichnung «casual sex» ist geläufig. «Besser mit dem Freund als gar kein Sex», lautet die Devise.

Über sexuelle Themen wird viel geredet, aber das Wort «Sehnsucht» höre ich selten. Ist Sehnsucht zu warm für unsere Zeit?

Sehnsucht akzeptiert, dass ihre Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Ich glaube, wir können das nicht mehr ertragen. Die Romane des 19. Jahrhunderts waren voll davon.

Das haben wir nicht mehr in unserem Vokabular der Gefühle. Menschen wollen heute unverletzlich sein, unverwundbar.

Inwiefern?

In einer vertrauensvollen Beziehung muss einer den ersten Schritt machen. Damit setzt er sich aber der Gefahr aus, zurückgewiesen zu werden. Heute will keiner den ersten Schritt machen, niemand will verletzlich sein.

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Unser gesellschaftlicher Wert scheint davon abzuhängen, wie sehr wir erwünscht sind. Als ob dieses Erwünscht-Sein Teil unseres gesellschaftlichen Indexes wäre.

Je mehr der Kapitalismus voranschreitet, desto mehr hängt unser Selbstwert davon ab, wie attraktiv wir für andere sind. Sind wir nicht attraktiv, sinkt unser Wert. Das ist sozial beängstigend.

Darüber spricht aber kaum jemand. Ist Einsamkeit ein Tabu?

Was zum Tabu wurde, ist alles Negative. Niemand sagt, er sei deprimiert, einsam, verärgert. Niemand spricht davon. Weil der Wert eben davon abhängt, attraktiv zu sein.

Ein anderer Grund ist, dass der Feminismus die Beziehungen verändert hat. Aber wir haben keine neuen Codes, die heterosexuelle Beziehungen regeln würden. Für Homosexuelle ist es heute einfacher.

Homosexuelle haben klarere Codes, klarere Regeln?

Ich glaube, dass die Angst, etwas Falsches zu tun, unter Homosexuellen geringer ist. Es gibt eine neue Angst in heterosexuellen Beziehungen. Heterosexuelle Männer hatten keine Reflexion über ihre Rollen. Keine Diskussion, wie sie im Feminismus stattfand.

Die Rollen für heterosexuelle Männer wurden nicht neu konstruiert. Jetzt befinden sie sich im Stadium der Dekonstruktion.

Glücklich zu sein ist kein Vergnügen, es ist ein Druck, ein Imperativ.

Wo gehen Männer hin, um über ihre Ängste zu sprechen?

Sie tun’s nicht. Das ist auch der Grund, weshalb viele Männer wütend oder deprimiert sind, oder einfach eine Frau brauchen. Männer sprechen selten mit anderen Männern, zumindest in einer bestimmten Generation.

Das liegt an der Wettbewerbssituation. Mann sein heisst, sehr verkürzt gesagt, kompetent sein, stark und mächtig. Deshalb müssen sie ihre Schwäche unterdrücken. Das ist die einzige Möglichkeit, wie sie die Rolle als Mann spielen können.

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Dann ist Glück immer an Erfolg gebunden?

Glücklich zu sein ist kein Vergnügen, es ist ein Druck, ein Imperativ. Ich denke, dass in unserer heutigen Gesellschaft das Glück sehr auf wirtschaftlichem Erfolg beruht.

Sie schämen sich, sind unglücklich, wenn Sie zu den Verlierern gehören. Wir haben gar keine Worte mehr für jemanden, der nicht erfolgreich ist. Worte, die ihm seine Würde belassen.

Wir sind in einem Zeitalter, in dem wir immer besser sein müssen. Auch unsere Kinder müssen besser sein, als sie es sind. Erfolg ist für viele der Grund, glücklich zu sein. Objektiv gesehen sind das aber nur sehr wenige, die meisten sind unglücklich. An der Spitze der Pyramide sind immer nur wenige.

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Aber da ist der amerikanische Traum, der allen verspricht: Wenn man sich nur genügend anstrengt, kommt man an die Spitze. Es ist eine Illusion, das zu glauben.

In Wahrheit kann man intelligent, fleissig und ehrenwert sein und nirgendwohin gelangen. Und das beschämt Menschen. Sie sprechen nicht darüber, weil sie glauben, es sei ihr Fehler.

Mittlerweile sind wir im Zürcher Hauptbahnhof angekommen. Wir haben zehn Minuten Zwischenhalt. Eva Illouz schaut dem Mami und den Kindern nach. Die beiden streiten nicht mehr. Mami sieht geschafft aus.

Schon viel zu früh hatte Illouz damit begonnen, ihre Tasche zu packen. Reisen sei ihre Sache nicht, sie gehe leicht verloren, sagt sie. Ich verspreche, sie in Kloten bis zum richtigen Check-in zu begleiten. Sie lächelt und nimmt die Sonnenbrille ab. Neugierig schaut sie.

Letzte Frage: Was ist Ihre persönliche Definition von Glück?

Ich weiss es nicht. Glück ist nicht so wichtig für mich. Sinn und Gerechtigkeit sind mir wichtiger. Wissen und Weisheit sind wichtiger. Und vieles anderes.

Seitentriebe

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Legende: SRF / Samuel Schalch

Warum sind Beziehungen heute so schwer? Um diese Frage geht es auch in «Seitentriebe»: Die Serie von Güzin Kar begleitet drei Paare, die weder mit noch ohne einander so richtig können. Alle Folgen der Staffeln 1 und 2 gibt's online.

Ein Beispiel: Kinder zu haben, macht weniger glücklich. Wir können beobachten, dass bei Paaren mit Kindern der Glückslevel sinkt, weil sie mehr arbeiten müssen, weil sie viele Dinge tun, bei denen sie nicht an sich denken.

Wenn wir bei allem immer nur fragen würden, ob es uns glücklich macht, würden wir vieles nicht tun. Für mich ist die eigentliche Frage, ob es Sinn macht. Ein Kind zu haben, ist sinnstiftend. Aber es macht einen nicht unbedingt glücklich.

Buchhinweise

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  • Eva Illouz / Edgar Cabanas: «Das Glücksdiktat», Suhrkamp 2019.
  • Eva Illouz: «Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen», Suhrkamp 2018.
  • «Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung», Suhrkamp 2011.
  • «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus», Suhrkamp 2006.
  • «Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus», Suhrkamp 2003.

Das ist der Grund, weshalb ich sage, Glück ist nicht so schrecklich wichtig. Ich denke sowieso, dass man Glück nicht losgelöst vom guten Charakter einer Person definieren kann. Die Definition von Glück einer bösen Person interessiert mich nicht.

In Kloten finden wir das richtige Gate. Eva Illouz bedankt sich und will alleine weiter, Geschenke kaufen für ihre Familie. Ich gehe aufs Tram. Ein altes Menschenpaar, gerade gelandet, fragt nach dem Weg, sie halten sich bei der Hand und strahlen überglücklich. Sie kämen ihre Enkel besuchen.

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