Seit zehn Monaten ist der Ausnahmezustand sein Alltag: Gesundheitsminister Alain Berset manövrierte die Schweizer Bevölkerung durch das Krisenjahr 2020.
Doch die Corona-Zahlen sind immer noch erschreckend hoch. Hat das System versagt? Nein, sagt Bundesrat Berset. Aber der Schweizer Wege habe seinen Preis.
SRF: Bundesrat Berset, nach zehn Monaten als Krisenmanager, praktisch ohne Pause, mit wenig Schlaf – kamen Sie da nicht an die eigenen Grenzen?
Alain Berset: Doch, es gab Momente in der ersten Welle, als ich nicht mehr wusste, ob es Tag oder Nacht war, Wochentag oder Wochenende. Auch körperlich habe ich meine Grenzen gespürt. So etwas habe ich vorher noch nie erlebt.
Es gab Momente, als ich nicht mehr wusste, ob es Tag oder Nacht war, Wochentag oder Wochenende.
Wie haben Sie für sich die Krise gemeistert – Ihre drei wichtigsten Regeln?
Erstens sollte man die Krise als solche akzeptieren und sich auf eine lange Zeit vorbereiten. Darum habe ich Anfang Jahr von einem «Marathon» gesprochen, der noch vor uns liegt. Wenn es kürzer dauert, umso besser.
Zweitens braucht es eine absolute Flexibilität, zeitlich sowie inhaltlich. Und drittens brauchen wir eine gewisse Bescheidenheit. Keine Angst, aber viel Respekt vor der Situation, vor dem Virus. Und Bescheidenheit heisst auch: Transparent zu kommunizieren, auch wenn etwas unklar ist oder wenn man Fehler gemacht hat.
Die Schweiz hat Fehler gemacht, insbesondere bei der zweiten Welle. Was waren die grössten?
Es gab einige. So hatten wir im Sommer das Gefühl, das Schlimmste sei vorbei. Wir waren zu locker. Und dann waren wir viel zu optimistisch, als wir dachten, wir könnten im Herbst die Grossveranstaltungen wieder öffnen.
Wenn Sie sagen, die Krise brauche absolute Flexibilität: Warum beruft sich der Bundesrat dann immer wieder auf die Tradition der Schweiz, auf den Schweizer Mittelweg, den Föderalismus und die Eigenverantwortung. Was, wenn all das für die Krise nicht taugt?
Flexibilität bedeutet nicht, dass man im Moment der Krise die Strukturen auf den Kopf stellt. Das wäre eine Katastrophe. Wenn alles unsicher ist, müssen wir uns auf bestehende Strukturen verlassen können.
So können wir mit einzelnen Verfahren flexibel sein. Aber man beginnt mit bestehenden Strukturen, um wirklich innovativ und flexibel zu sein.
Zeigen nicht die Zahlen, dass der Schweizer Weg der falsche ist?
Der Schweizer Weg hat einen Preis. Er erfordert Eigenverantwortung, Vernunft und Weitsicht von allen. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir die Massnahmen verschärfen. Das haben wir getan.
Der Schweizer Weg hat einen Preis. Er erfordert Eigenverantwortung, Vernunft und Weitsicht von allen.
Das Gute an der aktuellen Situation ist, dass wir noch Reserven haben. Auch das ist Sinn und Zweck der Politik: Immer in einer Situation zu sein, wo wir Alternativen haben.
Darf die Politik eigentlich Menschenleben abwägen gegen wirtschaftliche, soziale und psychische Kosten?
Es geht ums Gesamtbild. Aber die Gesundheit der Menschen hat oberste Priorität. Das haben wir schon im März gezeigt. Wir mussten dann aber sehr grosse Probleme in Kauf nehmen, etwa durch die Schliessung der Schulen für fast zwei Monate. Das war sehr wahrscheinlich der schwierigste Entscheid für uns.
Politische Entscheidungen zu treffen, das braucht viel Urteilskraft. Wie sieht der Prozess der Entscheidungsfindung bei Ihnen konkret aus?
Urteilskraft ist das Wichtigste in solchen Momenten. Bei mir persönlich sieht das konkret so aus: Unterschiedliche Personen liefern mir Informationen. Bei Bedarf verlange ich mehr. Und dann entsteht ein Entscheid.
Die Gewichtung der Perspektiven ist nicht rational oder mathematisch. Es ist ein Gefühl. Der Entscheid ist letztlich sehr intuitiv – ein Bauchgefühl, fast schon organisch. Das geht noch einfacher, wenn man weiss, dass Fehler passieren dürfen und man sie wieder korrigieren kann.
Sie haben einmal gesagt, es sei besser, schlechte Entscheide zu treffen als gar keine Entscheide.
Ja, in der Bewältigung einer Krise ist es das Schlimmste, einfach nichts zu tun, blockiert zu sein und alles über sich ergehen zu lassen. Klar: Wenn man Fehler macht, muss man diese möglichst schnell korrigieren.
Die Kunst wird sein, nach der Krise die Fragen vom Anfang nicht zu vergessen.
Das Jahr 2020 brachte fundamentale Gewissheiten ins Wanken. Im Frühling hinterfragten viele Menschen den eigenen Lebensstil, die Hektik, den Konsum. Man dachte wieder über Alternativen und Utopien nach. Sie auch?
Ja, doch. Der Moment der Krise ist auch oft der Moment der Fragestellung. Die Antwort aber kommt später. Derzeit sind wir mit der Bewältigung der Krise beschäftigt. Die Kunst wird sein, nach der Krise die Fragen vom Anfang nicht zu vergessen.
Welche Fragen sind das?
Ich war Ende März, Anfang April in der Stadt Bern, fast alles war geschlossen. Plötzlich sah ich überall auf den Türen diese kleinen Plakate: «Wir sind junge Menschen und gehören nicht zur Risikogruppe. Das sind unsere Handy-Nummern. Wir machen gerne für Sie Einkäufe und helfen.»
Da war diese Solidarität zwischen Menschen, die sich nicht einmal kennen. Das hat mich stark beeindruckt.
Wie können wir diese Momente der Solidarität in Zukunft beherzigen?
Man hat in den letzten Jahrzehnten sehr stark den Individualismus gefeiert. Aber man hat jetzt gemerkt: Individualismus ist für eine Gesellschaft ein Begriff für schöne Zeiten. Wenn es schlecht geht, funktioniert es nur kollektiv und solidarisch.
Das war für mich die Erkenntnis in diesem Moment. Und die Frage ist dann: Was machen wir damit? Was bedeutet das nach der Krise? Was wird von diesem Geist bleiben?
Haben Sie eine Prognose?
Ich habe keine Prognose, aber meine Befürchtung wäre, dass wir diese Chance verpassen.
Wo sehen Sie die grossen politischen und gesellschaftlichen Baustellen der nächsten zehn Jahre?
Schwierig. Zunächst einmal glaube ich, dass dieses Virus nicht so schnell weg sein wird. Es wird bleiben, trotz Impfungen und besseren Medikamenten.
Hinzu kommen die Folgen der Krise, die man nicht unterschätzen darf: wirtschaftliche Folgen, gesellschaftliche. Und dann glaube ich, dass der internationale Bezug der Schweiz für die nächsten Jahre sehr wichtig sein wird.
Die Solidarität innerhalb des Landes, die gerade in Krisenzeiten so wichtig ist, soll auch international gelten. Ein Engagement der Schweiz für eine multilaterale Welt scheint mir hier sehr wichtig zu sein.
Woran denken Sie konkret?
Etwa an die Stärke der humanitären Organisationen, der internationalen Organisationen, der Weltgesundheitsorganisation. Ohne WHO wäre jetzt alles viel schlimmer.
Die Schweiz ist als Land zu klein, um auf die anderen verzichten zu können. Und zu gross, um zu denken, es ist egal was passiert.
Die Schweiz ist als Land zu klein, um auf die anderen verzichten zu können. Und zu gross, um zu denken, es ist egal was passiert – niemand kümmert sich um uns. Wir wollten sehr stark an stabilen internationalen Beziehungen interessiert sein. Auch in der Klima- und Energiepolitik, die für die nächsten Jahre sehr wichtig sein wird.
Wenn Sie Ihre Agenda 2020 in wenigen Tagen zuklappen und vorne drauf etwas schreiben müssten, quasi zur Erinnerung: Was wäre das?
Endlich vorbei.
Das Gespräch führte Yves Bossart.
Das Interview ist eine verkürzte und leicht paraphrasierte Fassung des Gesprächs in der «Sternstunde Philosophie».