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Der Kopf einer Frau von hinten.
Legende: «Meist ist es schwierig nachzuvollziehen, was in mir vorgeht», sagt Melanie Landolt. Photocase

Introversion – Extroversion Wenn Geburtstagsfeste zur Qual werden

Introvertierte Menschen werden schnell als schüchterne Einzelgänger stigmatisiert. Doch das sind sie nicht: Sie sind nur anders. Wie anders, das erklärt Melanie Landolt.

SRF: Melanie Landolt, Sie bezeichnen sich als eine introvertierte Person. Mit diesem Interview können Sie in der ganzen Schweiz wahrgenommen werden. Was bedeutet das für Sie, hier mitzumachen?

Melanie Landolt: In erster Linie sehe ich nur Sie vor mir. In Gesprächen auf einer solchen Zweierebene funktioniere ich am besten. Darum kann ich auch meinen Beruf als Pflegefachfrau ausüben.

Sie können sich ja vorstellen, dass ich eine Patientin von Ihnen bin.

(Lacht) Auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen. Aber Sie haben Recht: Eine klare Rollenverteilung ist einfacher für mich. Dass dies hier noch viele andere mitbekommen, blende ich aus. Dennoch wollte ich dieses Gespräch führen. Denn es gibt viele Leute, die ebenfalls introvertiert sind. Denen tut es gut, dies hier zu erfahren.

In Gruppen von Leuten zu sein, belastet mich.

Auf den ersten Blick merkt man nicht, dass Sie introvertiert sind. Können Sie eine typische Situation schildern, in der Sie merken: Jetzt habe ich ein Problem?

Geburtstagsfeste sind problematisch. Ich habe in letzter Zeit viele Einladungen für runde Geburtstage bekommen. Und alle abgesagt.

Warum?

Das ist für mich Stress pur. In Gruppen von Leuten zu sein, belastet mich. Vor allem, wenn Leute dazukommen, die ich nicht kenne. Ich weiss dann nicht, was ich sagen soll, wie und mit wem ich mich unterhalten kann. Dann bin ich gestresst. (weint)

Zur Person

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Melanie Landolt hat zwei Söhne allein grossgezogen und leitet als Pflegefachfrau in einem Alters- und Pflegeheim die Demenzgruppe. Sie hat lange unter ihrer Introversion gelitten. Heute sieht sie darin Stärken.

Wie muss man sich dieses Gefühl vorstellen?

Es ist ein ungutes Gefühl. Eines, das ich auch nicht loswerden kann. Solche Treffen bringe ich nur auf die Reihe, wenn ich den Gedanken daran verdränge.

Werden Sie schon im Vorfeld unruhig?

Das Gefühl ist schwierig zu beschreiben. Es ist für mich eher ein belastender Gedanke. Es ist unangenehm ... (stockt). Bei diesen Geburtstagseinladungen denke ich: Muss ich mir das jetzt antun?

Wenn Sie das nun erzählen, sind sie sichtlich berührt. Sie haben Tränen in den Augen. Ist das auch ein Leiden?

Das ist so. Zum Unwohlsein kommt auch das Leiden, weil ich die Leute, die mich einladen, nicht brüskieren will. Ich mache es aber trotzdem. Obwohl ich Wertschätzung vermitteln möchte, kann ich das nicht, weil ich schliesslich nicht an das Geburtstagsfest gehe.

Können Sie ihr Verhalten erklären?

Das habe ich versucht. Meist ist es aber schwierig nachzuvollziehen, was in mir vorgeht, wenn man nicht so veranlagt ist.

Neulich haben sie einen Workshop für Introvertierte besucht. Er soll helfen, das Problem zu mildern. Mit welchen Erwartungen sind Sie dahingegangen?

Meine Erwartung war, einfach mal darüber sprechen zu können und hilfreiche Tipps zu bekommen. Ich bin aber nie davon ausgegangen, dass ich meine Art ändern kann. Mittlerweile weiss ich, dass das nicht so einfach ist. Es war aber sehr angenehm zu sehen, dass es tatsächlich nicht nur mein Problem ist.

Intro- oder extravertiert?

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  • Schöpfen Sie Kraft aus dem Allein- oder dem Zusammensein? Testen Sie, ob Sie eher introvertiert oder extravertiert sind.
  • Susan Cain bricht eine Lanze für stillere Menschen. Ihr Buch «Still» über introvertierte Leute trifft den Nerv der Zeit.

Was für Strategien haben Sie im Workshop gelernt?

An Geburtstagen, wenn Leute da sind, die ich nicht kenne, soll ich mir Zeit nehmen und überlegen: Welche Person würde mich interessieren? Und dann mit Fragen arbeiten, um in ein Gespräch zu kommen. Gleichzeitig muss ich mir auch überlegen, wann es reicht und mich dann bewusst ausklinken und verabschieden. Auch früher, wenn nötig. Und ohne schlechtes Gewissen.

Was ist denn so anders, wenn sie als Pflegefachfrau mit Patienten oder als Familienmitglied mit ihren Angehörigen reden?

In meinem Beruf kommt mir als introvertierte Person vieles entgegen. In meiner Leitungsfunktion ist meine Position klar. Ich muss mir bei meiner Arbeit nicht einen Platz erkämpfen, der ist vom Organigramm gegeben.

In einer Sitzung muss ich mir auch die Wortmeldung nicht erkämpfen. Es ist klar: Die Leitung des Teams liegt bei mir. Ausserdem habe ich als Pflegefachfrau viele Gespräche unter vier Augen. Darin bin ich gut. Diese klare Struktur und Ordnung fällt bei Geburtstagsfesten weg.

Als Introvertierte kann mich im Alleinsein erholen. Das gibt mir ein Stück Unabhängigkeit und Freiheit.

Sie haben eine lange Geschichte mit ihrer Introvertiertheit. Sehen Sie auch Vorteile in dieser stilleren Art das Leben anzusehen?

Ja. Es ist wichtig in unserer Welt, dass es Leute gibt, die gut zuhören können. Und das können Introvertierte: zuhören, wahrnehmen, spüren. Das ist eine Stärke. Eine andere ist das überlegte Handeln. Introvertierte sind Leute, die erst überlegen und dann tun.

Ausserdem kann ich konzentriert arbeiten und gut mit mir allein sein. Auch das ist eine Qualität: Ich kann mich im Alleinsein erholen. Das gibt mir ein Stück Unabhängigkeit und Freiheit.

Das Gespräch führte Cornelia Kazis.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.02.2017, 09:00 Uhr.

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