Vor gut zwei Wochen wählten die Iranerinnen und Iraner einen neuen Präsidenten. Der erzkonservative Ebrahim Raisi wird den eher moderaten Kurs seines Vorgängers nicht weiterverfolgen. Aber sein politischer Kurs steht kaum für das, was die Mehrheit im Land sich wünscht.
Auch die Lyrikerin und Psychoanalytikerin Kathy Zarnegin zeichnet ein anderes Bild des Iran. Sie lebt seit langem in der Schweiz, hat aber immer noch enge Kontakte in das Land ihrer Geburt.
SRF: Von aussen betrachtet, hat man das Gefühl, der Iran ist ein sehr konservatives Land. Können Sie uns das Land aus Ihrer Sicht schildern?
Kathy Zarnegin: Das Bild des Irans im Westen ist mehr als einseitig. Daran sind auch die westlichen Medien schuld. Nicht nur, klar. Der iranische Staat vermittelt auch ein bestimmtes Bild des Landes.
Aber weshalb die westlichen Medien dieses Bild übernehmen und erst in den letzten Jahren ein bisschen differenzierter die Sache angehen, das ist für mich ein Rätsel.
Sobald der Staat Härte zeigen will, ist das erste Zeichen: Härte gegen Frauen.
Wer nach Iran reist, wird überrascht sein, weil das Land überhaupt nicht mit diesem Bild übereinstimmt. Die iranische Gesellschaft ist sehr divers, zum Teil sehr offen.
Die Situation der Frauen in Iran nehmen wir im Westen so wahr: Kopftuch und Tschador in der Öffentlichkeit, arrangierte Ehen, wenig Rechte und für besondere Verbrechen gegen den islamischen Glauben Peitschenhiebe oder Steinigung. Wie sehen Sie das?
Die Regeln gibt es. Diese Brutalität, die Gewalt, diese Gesetze. Das will ich überhaupt nicht schönreden.
Da steckt das Politische dahinter. Der Zwang zum Kopftuchtragen wurde erst eingeführt, als der Krieg gegen Irak anfing. Sobald der Staat Härte zeigen will, ist das erste Zeichen: Härte gegen Frauen. Wenn Sie mit Iranerinnen reden, weiss das jede Frau. Frauen wurden von Anfang an in der Revolution so instrumentalisiert.
Aber Regeln sind ja auch dazu da, nicht eingehalten zu werden.
Ich rate jeder Frau, die in den Iran reist, einmal in ein gutes Coiffeurgeschäft zu gehen. Da sehen sie, wie die Frauen sind.
Zuhause trägt man den Minirock und draussen trägt man den Tschador?
Das ist so. Ich rate jeder Frau, die in den Iran reist, einmal in ein gutes Coiffeurgeschäft zu gehen. Da sehen sie, wie die Frauen sind. Diese Salons sind wie Flughafenterminals. Riesige Hallen.
Da sitzen 60 Frauen. Als erstes wird das Kopftuch vom Kopf gerissen, der Tschador weggeworfen. Und darunter tragen die Frauen durchsichtige Kleider, Mini Shorts und so weiter.
Wenn Sie in den Iran reisen, müssen Sie sich ja anpassen. Wie erleben Sie das Tragen des Kopftuchs?
Ich leide. Gleichzeitig stelle ich in den letzten Jahren fest, dass ich die Einzige bin, die so streng rumläuft. Ich kaufe mir einen langen Mantel. Trage gedämpfte Farben. Ein Kopftuch. Im Flughafen treffe ich auf Frauen mit kurzen roten Jäckchen, einem Tülltuch irgendwo auf dem Rossschwanz und voll geschminkt.
Wie müssen wir uns die Karriere einer typischen jungen Iranerin der Mittelschicht vorstellen?
Die typische Karriere? Es leben 80 Millionen Menschen im Land…
Aber gut: Sie geht an die Uni. Nicht alle, denn die Aufnahmeprüfungen sind sehr streng. Die Frauen finden auch Jobs. Es ist aber schwierig. Es ist für alle schwierig. Das ist eines der grossen Probleme solcher Länder, dass es viel zu viel gut ausgebildete Menschen gibt, die nachher keine beruflichen Perspektiven haben
Kennt man so etwas wie Frauenförderung?
Frauenförderung gibt es insofern, dass jetzt neu im Iran berufstätige Frauen nach der Geburt ein halbes Jahr frei nehmen können. Das ist fortschrittlicher als bei uns, würde ich meinen.
Wie gehen die Männer in dieser Gesellschaft mit ihrer Rolle um, dass sie alle Rechte haben und über das Wohl und alles, was eigentlich eine Frau machen darf, entscheiden?
Es gibt zum einen diese traditionell religiöse Schicht, da müssen wir nicht darüber reden. Da gibt es gar keinen Platz für irgendwas anderes.
Aber dort, wo die Gesellschaft offener ist, und das ist in meinen Augen die Mehrheit der iranischen Gesellschaft, da ist der iranische Mann weniger machohaft. Im Gegenteil. Ich kenne sehr viele Männer im Iran, für die es selbstverständlich ist, dass die Frauen stark sind,
Also darf ein Mann einer Frau mehr Freiheiten zugestehen.
Die meisten Frauen nehmen sich diese Freiheiten! Und ich glaube, die meisten Männer haben auch überhaupt nichts dagegen. Es ist ja auch zu ihrem Vorteil.
Man hält sich einfach an gewisse Vorschriften. Es gibt in Teheran, generell in Grossstädten, Cafés oder Lokalitäten, die hip sind und Macchiato anbieten. Da sehen Sie ganz viele junge Pärchen, die sind bestimmt nicht verheiratet.
Man lebt die Freiheit nur im Privaten und damit wäre ich nicht klargekommen.
Sie waren ein Teenager, als Sie 1979 in die Schweiz kamen. Haben Sie sich schon mal vorgestellt, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Sie in Iran geblieben wären?
Nicht wirklich. Ich glaube, ich wäre mit vielem nicht zurechtgekommen,
Womit am wenigsten? Was denken Sie?
Trotz aller Freiheiten, die die Frauen erlangt haben – ich glaube, ich hätte wahnsinnig unter der Unfreiheit gelitten. Iran ist ja trotz allem eine unfreie Gesellschaft. Man lebt die Freiheit nur im Privaten und damit wäre ich nicht klargekommen.
Das Interview ist ein gekürzter, leicht angepasster Auszug aus dem Gespräch mit Kathy Zarnegin in der Sendung Kontext. Die ganze Sendung finden Sie am Anfang des Artikels.