Das Wichtigste in Kürze
- Ende der 1960er-Jahre brach in der Schweiz das Baufieber aus, dem historisch wertvolle Bausubstanz zum Opfer fiel.
- Der Bundesrat entschied, von Sibylle Heusser ein Inventar der schützenswerten Ortsbilder in der Schweiz erstellen zu lassen
- Das Inventar umfasst heute 1274 Objekte, die in den rund 100 sogenannten ISOS-Buchbänden dokumentiert sind.
Sibylle Heusser hat die ganze Schweiz bereist. Sie hat sich 6000 Ortschaften angeschaut und überlegt, welche Gebäude-Ensembles aus welchem Grund für die Schweiz von nationalem Interesse sein könnten – und deshalb schützenswert. Was sich hier in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt, hat Sibylle Heusser 45 Jahre lang beschäftigt.
Massnahme gegen das Baufieber
«Doch beginnen wir von vorn», fängt Sibylle Heusser zu erzählen an. In den 1970er-Jahren habe sie am Zürcher Polytechnikum als Gastdozentin Städtebau unterrichtet: «Eines Tages kam ein Herr Aebi vorbei und fragte mich, ob ich für den nationalen Heimatschutz ein Inventar der schützenswerten Ortschaften der Schweiz erstellen könne».
Das war dringend nötig. Denn in der Schweiz war das Baufieber ausgebrochen. Fortschritt war die Devise. Kommunale Richtpläne zeichneten eine Welt ohne altes Gemäuer.
Die Abrissbirne machte auch keinen Halt vor historisch wertvoller Bausubstanz. Zunehmend tauchte die Frage auf: Was bleibt von der Schweiz noch übrig, wenn das so weitergeht?
Was ist schützenswert?
«Historisch wertvoll»: Was heisst das überhaupt? Und was ist für «die Schweiz identitätsstiftend»? Nachdem Sibylle Heusser den Auftrag angenommen und sich «mit den besten Abschluss-Studenten» an die Arbeit machte, waren das ihre ersten Fragen.
Sind es die Innenstädte von Bern oder Basel? Sind es die vielen Landstädtchen wie Willisau, Laufen, Murten, die von nationalem Interesse und deshalb schützenswert sein könnten? Oder sind es die schönen Bauerndörfer des Emmentals, Wallis, Graubündens? Die Weiler der Waldenser? Oder die Burgen mit ihren Meierhöfen? Was ist mit den anderen unzähligen Gebäude-Ensembles, die charakteristisch sind für ein Dorf, ein Quartier?
Entscheidungsschwierigkeiten
«Das hat uns damals unzählige Stunden beschäftigt und heftige Diskussionen ausgelöst», lacht Sibylle Heusser heute. «Wir merkten bald, dass aus den «wenigen Monaten» – wie es im Auftrag formuliert war – nichts werden würde.
Zuerst mussten wir überhaupt herausfinden, nach welchen Kriterien wir «schützenswerte Ortsbilder» erfassen sollen. Die Schweiz mit ihren vielen unterschiedlichen Baustilen, Häusergruppen aus allen möglichen Zeiten, gebaut für unterschiedliche Zwecke lässt sich nicht über einen Kamm scheren.»
Also wurden Arbeiterquartiere ebenso unter die Lupe genommen wie Schulhäuser, Kirchplätze, Strassenzüge, Wasserkraftwerke, Vororte. Grundlage war die Siegfriedkarte aus dem späteren 19. Jahrhundert.
Fanden sie da eine Ortschaft mit mehr als zehn Häuser, kam sie auf die Liste. 6000 solche Ensembles hat das ISOS-Team analysiert und vor Ort besucht. Rund 1300 wurden definitiv ausgewählt. Inzwischen hatte das Bundesamtes für Kultur die Federführung übernommen.
Minuziöse Arbeit
Der Entscheidungsprozess war das eine, die Inventarisierung das andere. Um zu verstehen, was für eine gewaltige Arbeit das war, nimmt man am besten einen der rund 100 grossformatigen ISOS-Bände in die Hand. Sofort wird klar, wie aufwändig, aber auch wie wertvoll die geleistete Arbeit ist.
Pläne, Bilder, Charakterisierungen, historische Recherchen, Empfehlungen: minuziös erforscht, detailliert dargestellt, hochinteressant auch für Laien, die sich für die Geschichte einer Ortschaft interessieren.
Unbeliebt bei den Gemeinden
Für Sibylle Heusser eine lebenslange Pionierarbeit, für die Öffentlichkeit ein einmaliges Stück Kulturgut, für die Verwaltung ein hervorragendes Planungsinstrument.
ISOS wurde von vielen Fachleuten geschätzt, aber ebenso oft auch heftig verschmäht. Vor allem in vielen Gemeinden wurden und werden die ISOS-Empfehlungen als Einmischung verstanden, als unverbindlich interpretiert und in die Schubladen gelegt.
Das änderte sich 2009 schlagartig: im zürcherischen Rüti hatte ein Architekt gegen einen Bauherrn geklagt, der sich über die ISOS-Empfehlungen hinweggesetzt hatte. Es kam zu einem Bundesgerichtsurteil zugunsten von ISOS.
Von der Empfehlung zum Gesetz
«Von da an war plötzlich alles ganz anders. Das ISOS erhielt durch das Urteil verbindlichen Charakter, auch mit Auswirkungen auf unsere Arbeit. Wir konnten nicht mehr – wie wir das gewohnt waren – laufend verbessern und verfeinern.
Plötzlich waren unsere Empfehlungen Gesetzt und mussten so bleiben, wie sie waren» schmunzelt Sibylle Heusser, die trotz ihrer charakteristischen Zurückhaltung eine gewisse Genugtuung darüber nicht ganz verbergen kann.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 12.7.2017, 09:03 Uhr