SRF: Seit Neuestem gibt es am Breitscheidplatz in Berlin einen 14 Meter langen Riss aus Bronze – als Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags vor einem Jahr. Was helfen solche Mahnmale?
Johannes Ullrich: Solche Mahnmale sind wichtig, um den Opfern und ihren Angehörigen das Gefühl zu geben, dass sie beachtet werden. Durch eine öffentliche Aktion wie diese erfährt man Empathie. Das hilft.
Viele Schweizerinnen und Schweizer reisen gerne nach Berlin, Paris, Nizza – an Orte, wo furchtbare Terroranschläge stattgefunden haben. Wie sollen sich die Menschen mit diesen Vorfällen auseinandersetzen, bevor sie dorthin fahren?
Man sollte dem keine grosse Beachtung schenken bei der Reiseplanung. Das sind singuläre Ereignisse, die zu einer paradoxen Furcht führen.
Man sieht immer wieder, dass Reisebuchungen in Folge von Terroranschlägen stark zurückgehen. Aber im Grunde genommen ist die Furcht unbegründet. In Westeuropa geht die Anzahl Terroranschläge seit den 1970er-Jahren kontinuierlich zurück. Wir leben eigentlich in einer sichereren Welt.
Auch wenn er nicht hier stattfindet – gefühlsmässig betrifft uns Terror auch in der Schweiz. Was machen solche Ereignisse mit uns? Wie verändern sie unsere Gesellschaft?
Interessant ist: Oft finden wir stärkere Reaktionen da, wo weniger Terroranschläge passieren. In Deutschland haben wir vor Jahren mehrere Untersuchungen gemacht, da war der Terror als Thema noch nicht so präsent. Es ging um 9/11, Madrid, London.
Wir haben herausgefunden, dass Terroranschläge bei den Menschen bewirken, dass sie ihr eigenes System gerechter finden. In Beispiel auf Politik und soziale Ungleichheit bewirken Terroranschläge zum Beispiel, dass die Leute denken: Bei uns ist alles in Ordnung. Wir lassen die da oben mal machen, damit es so bleibt.
Oft finden wir stärkere Reaktionen da, wo weniger Terroranschläge passieren.
Das heisst, Menschen billigen nach Anschlägen eher die Einschränkung von Freiheitsrechten oder öffentliche Überwachung, die mittlerweile ein unglaubliches Ausmass angenommen hat.
Das alles sind indirekte Folgen von Terror, die besonders in Gesellschaften auftreten, die noch wenig Erfahrung mit Terror haben.
Stärken denn Terroranschläge auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Einerseits wird er sicherlich gestärkt. Das sind positive Folgen von Anschlägen, zum Beispiel wenn sich Menschen solidarisch verhalten oder spontan Hilfe anbieten.
Gleichzeitig werden Gruppen oder Menschen, die im Zusammenhang mit den Anschlägen gesehen werden, stigmatisiert und ausgegrenzt. Das sieht man zum Beispiel an der unbegründeten Zunahme von Islamophobie in Frankreich oder Deutschland.
Früher richtete sich Terrorismus oft gegen Politiker und Wirtschaftsleute. Heute zielen die meisten Anschläge auf normale Menschen ab. Was bezweckt diese Strategie?
Terrorismus bezweckt Terror, also Schrecken und Angst auszulösen, um dadurch direkt oder indirekt Einfluss auf die Regierung auszuüben.
Direkt, indem wie früher Politiker oder Entscheidungsträger ins Visier genommen werden. Indirekt durch Verbreitung von Schrecken in der Bevölkerung. Das gelingt durch scheinbar zufällig ausgewählte Opfer besonders gut.
So entsteht wiederum Druck bei den Politikern, die Sicherheit zu erhöhen, die Aussenpolitik zu ändern, bestimmte Personen freizulassen.
Politiker fordern uns nach solchen Ereignissen auf, uns nicht irritieren zu lassen, weiter zu machen. Was halten Sie von diesen Durchhalteparolen?
Die sind sicher angebracht. Wie bereits erwähnt, sind unsere Ängste rein statistisch unbegründet. Das heisst, es ist nicht gerechtfertigt, paranoid durch die Strassen zu laufen. Nach solchen Anschlägen ist Ruhe bewahren sicher eine gute Maxime.
Sie sagen: Die Terroranschläge gehen prozentual zurück. Trotzdem hat man ab und zu ein mulmiges Gefühl, schaut sich vielleicht bei Grossanlässen besser um. Wie sollen wir mit diesem Gefühl umgehen?
Dass einem plötzlich bewusst wird: Lastwagen sind gefährlich, damit können Menschen getötet werden – das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber man darf die mögliche Gefahr nicht mit der tatsächlichen Gefahr verwechseln, von einem Lastwagen überfahren zu werden.
Wir werden oft durch den möglichen Effekt geblendet. Wir laufen ja auch dem möglichen Lottogewinn hinterher und vernachlässigen die kleine Wahrscheinlichkeit, dass wir jemals gewinnen werden.
Man darf die mögliche nicht mit der tatsächlichen Gefahr verwechseln.
Man gewöhnt sich an vieles. Heute beschwert sich niemand mehr über die strengen Kontrollen an den Flughäfen. Die Überwachungskameras überall hätten vor Jahren noch Demonstrationen ausgelöst.
Es sieht so aus, als würde das Sicherheitsbedürfnis der Menschen steigen. Und zwar so, dass sie immer mehr bereit sind, diese Einschränkungen der Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen.
Das ist leider eine der perfiden Folgen der Terroranschläge. Auch weil sie in den Medien starke Aufmerksamkeit bekommen. Ich beobachte mit Sorge, dass wir uns daran gewöhnen.
Es sieht so aus, als würde das Sicherheitsbedürfnis der Menschen steigen.
Frankreich hat nach den Anschlägen in Paris den Ausnahmezustand eingeführt. Der gilt mittlerweile als normal. Der Terrorismus verändert also durchaus die Gesellschaft.
Das kann man so festhalten. Allerdings besteht kein monokausaler Zusammenhang, denke ich. Der Terror selbst ist eine Folge komplexer globaler Entwicklungen – Individualisierung, Rückzug des Staates und so weiter.
Diese Entwicklungen haben schon zur Verunsicherung in der Gesellschaft beigetragen und das Verlangen nach mehr Kontrolle erhöht, noch bevor es Terroranschläge gab.
Inwiefern spüren die muslimischen Flüchtlinge die Folgen des islamistischen Terrors, obwohl sie damit nichts zu tun haben?
Feindbilder werden durch eine Politik genutzt, die sich gegen das Recht auf Asyl richtet. Das kann man bei uns, in Osteuropa aber auch in Amerika beobachten. Zum Teil mit völlig verzerrten Begründungen.
Donald Trump begründete sein Einreiseverbot gegen Menschen aus muslimischen Ländern mit der Terrorgefahr. Aber die Länder, aus denen Terroristen kamen, die in Amerika Schaden angerichtet haben, sind gar nicht davon betroffen. Darunter leiden dafür oft schutzbedürftige Personen, die zurecht Asyl beantragen.
Es geht der Gesellschaft also auch ein Stück Menschlichkeit verloren.
Ich möchte das nicht nur pessimistisch sehen. Wir haben auch über positive Menschlichkeit gesprochen – Solidarität geht durch Terror nicht verloren.
Aber es gibt eine Spaltung in der Gesellschaft: Wir helfen nach innen, den Personen, die uns vertraut sind und leisten wenig Hilfe nach aussen, über die Grenzen.
Das Gespräch führte Hansjörg Schultz.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 19. Dezember 2017, 9:02 Uhr